2005-03-10
Die Landlosenbewegung MST
Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra
(Redaktionelle Vorbemerkung) Heike Schiebeck (Longo Mai, Österr.
Bergbauernvereinigung) besuchte anlässlich des 5. Weltsozialforums
Brasilien. kärnöl dokumentiert ihren Beitrag betreffend die
Landfrage. Diese Landfrage ist - was bei uns sehr oft verdrängt wird,
scheint doch unser Essen unmittelbar aus dem Supermarkt zu kommen - von
entscheidender Bedeutung: Am Beginn des modernen Kapitalismus stand die
Enteignung der Landbevölkerung, erst ohne Grund und Boden waren die
Menschen gezwungen, sich als Lohnarbeiter /-innen zu verkaufen.
Lohnarbeit war aus damaliger Sicht ein absurder Zustand! Nachdenken
über eine andere Gesellschaft muss also immer auch ein Nachdenken
über unsere Ernährungsbasis beinhalten.
Die Landlosenbewegung MST kämpft seit dem Ende der
Militärdiktatur 1985 für Agrarreform und soziale Gerechtigkeit in
Brasilien. Das Land sei ein Teil der Natur und solle für jene da sein,
die es bearbeiten, um in Würde zu leben, so die Leute von MST. Die
ungleiche Verteilung des Bodens wurde in Brasilien von den
portugiesischen Kolonialherren begründet. 1995 verfügten 49.000
Latifundisten, das sind 1 % der Landbesitzer, mit mehr als 1.000 ha
Land, zusammen über 45 % der Nutzfläche, darunter viel unproduktives
Brachland, das der Spekulation dient.
Dagegen haben 2,4 Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen, das ist
die Hälfte der Landeigentümer, jeweils weniger als 10 ha, zuwenig,
um davon leben zu können. Weil viele Kleinbauern aufgeben müssen
oder vertrieben werden, ging die Zahl der Landbesitzer/-innen von 1985
bis 1995 um eine Millon zurück. Sie wandern auf der Suche nach Arbeit
in die Millionenstädte ab, wo sie die Elendsviertel, hier Favelas
genannt, vergrößern und unter verschlägen ein armseliges Leben
fristen. In den vergangenen 20 Jahren stieg der Anteil der städtischen
Bevölkerung in Brasilien von 68 % auf 82 %. Etwa 42 Millionen
Menschen, also ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung, lebt in
Armut. Sie sind vom Wohlstand ausgeschlossen, 'los excluidos', und haben
keine Arbeit, keine menschenwürdige Wohnung, keinen Zugang zu Schulen
und Gesundheitsdiensten.
Um dem entgegenzuwirken, organisiert MST Landbesetzungen mit der
Forderung an die Regierung, den Landlosen das ihnen per Gesetz
zustehende, ungenutzte Land zu übertragen. In den Besetzerlagern oder
Acampamentos leben oft mehrere tausend Leute unter schwarzen
Plastikplanen. Sie müssen vier oder fünf Jahre durchhalten, bis die
Regierung den Latifundisten eine Entschädigung zahlt und das Land
verteilt. In den vergangenen 20 Jahren haben auf diese Weise 300.000
Familien, das sind etwa eine Million Menschen, je 25 bis 30 ha Land
erhalten und sich in MST-Siedlungen, den Assentamentos, niedergelassen.
Die Regierung unterstützt die Siedlungen beim Aufbau der Häuser und
der Infrastruktur, da es für sie die billigste Art ist,
Arbeitsplätze zu schaffen. 150.000 Familien, Kinder verarmter
Kleinbauern und Leute aus den Favelas, warten in den Acampamentos noch
auf Land. Sie bekommen häufig Morddrohungen und werden von der
Militärpolizei drangsaliert. Von Latifundisten bezahlte Pistoleros und
die Militärpolizei haben im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre tausend
Menschen bei Landbesetzungen ermordet.
MST fordert nicht nur eine umfassende Agrarreform und die Verteilung
von Land sondern auch eine Änderung der Wirtschaft. Die
landwirtschaftlichen Erzeugnisse sollen im Inland und in brasilianischen
Unternehmen verarbeitet und vermarktet werden. Bisher machen dieses
Geschäft ausländische Lebensmittelkonzerne wie Cargill, Bonge und
Nestle. In den MST-Siedlungen werden die Landwirtschaftsprodukte in
kleinen Einheiten verarbeitet, um die Wertschöpfung zu erhöhen und
Arbeitsplätze zu schaffen. Die Vermarktung rund um die Kooperativen
ist im Aufbau.
Brasiliens Wirtschaft ist seit der Kolonisation auf den Export
billiger Rohstoffe ausgerichtet. Die Regierung Lula hat die
Landwirtschaftsexporte sogar noch gesteigert, um die Auslandsschulden
aus der Zeit der Militärdiktatur zu bedienen. Sie wurden schon
mehrfach bezahlt. Im Jahr 2004 war Soja mit 8 Milliarden Dollar
wichtigster Devisenbringer. Die Weltbank forderte von Brasilien einen
Handelsbilanzüberschuss von 3,5 %, Lula erreichte 5 %. Da die
Exporterlöse für den Schuldendienst verwendet werden, stagnieren die
Löhne, Geld für Schulen, Krankenhäuser und die Agrarreform fehlt.
Die Armut bleibt. Unter Lula wurde nur halb so viel Land an die
Landlosen verteilt, wie unter der vorherigen Regierung. Die
Inlandsverschuldung ist gestiegen. Davon profitiert die nationale
Bourgeoisie, die in Lulas Regierungsbündnis vertreten ist.
Als die Weltbank Brasilien 1999 einen weiteren
40-Milliarden-Dollar-Kredit gewährte, verband sie dies u.a. mit der
Auflage einer 'marktgerechten Agrarreform'. Früher zahlte die
Regierung dem Großgrundbesitzer eine Entschädigung und verteilte das
Land kostenlos an die Landlosen. Nun kauft die Bank den Latifundisten
Land ab, noch dazu häufig schlechtes Land zu überhöhten Preisen,
und die Bauern, die auf diese Art Land bekommen, sind von Anfang an bei
der Bank verschuldet. Die Regierung Lula unterstützt die
'marktgerechte Agrarreform'.