2005-11-27
Erster Advent
Der Esoteriker spielt auf seiner persischen Hammelhirtenflöte: ein schauerliches Gejammer in dorischen Dissonanzen. Zwischendurch schüttelt er die Spucke aus seinem Instrument und trocknet es mit biologisch abbaufähigen Recycling-Taschentüchern. Zwar hätte es genügend andere Bettgenossen gegeben, aber Miriam mußte unbedingt den Esoteriker in unsere Dreibettkammer hereinbuhlen, damit ich »das Vertrauen wiedergewinne« und auch dem Esoteriker »vertrauen lerne, der der liebenswerteste und gewaltloseste Mann ist«, den Miriam je getroffen haben will. Er heißt Gabriel Maschek, spricht sich trotz des Hatscheks »Masegg« aus, und ich nenne ihn Sabaoth, seit er sich in einem anatolischen Filzkaftan gezeigt hat, zu dem sein wallender Prophetenbart eine wundervolle Ergänzung darstellte. Ich werde wahrscheinlich auf der Küchenbank übernachten, gemeinsam mit Leonhards kastriertem Kater, weil ich unserer esoterischen Dreisamkeit nichts abgewinnen kann. Noch dazu schnarcht Sabaoth wie ein Zuchtbulle. Freilich will ich auf sein Schnarchen warten und sein Schnarchen eine Zeitlang behüten, damit Miriam nicht in eine unesoterische Versuchung geführt wird.
»Wir vollziehen unsere Liebe nicht auf jene einzige Weise, die du zu kennen scheinst«, schalt mich Miriam, und der Kefir-Schwergewichtler nickte gravitätisch, mit einem seiner Wurstfinger in der Flöte bohrend. Der Gedanke, daß Miriam unter diesem Fettberg versinken könnte, verursacht mir akuten Brechreiz. Andererseits tritt Sabaoth mit einer selbstverständlichen Stattlichkeit auf, die mich geradezu verniedlicht. Käme er mir nicht andauernd in die Quere, aus der Distanz würde ich ihn trotz seiner Fettleibigkeit als einen schönen Menschen bezeichnen. Es handelt sich um die feiste Schönheit des Buonarotti-Gottes, der dem ersten Menschen den kleinen Finger reicht.
Leider liebe ich Miriam mit idiotischer Monogamie. Die Einzelnacht mit der Bewunderin aus der Folkkneipe war nur ein kümmerlicher Versuch, mir eine Aufgeschlossenheit vorzugaukeln, deren ich nicht fähig bin. »Es schadet nichts, wenn du dich einmal auf Liebe im Sinne der Agape besinnst«, belehrt mich Miriam. Eines Tages wird mir die genitale Gängelei, mit der sie mich dressiert, zu dumm sein, hoffe ich. Zu allem Überdruß muß ich gemäß dem Ergebnis einer Kleingruppendiskussion auch noch unsere Enthaltsamkeitskemenate heizen, draußen in der Kälte Holz hacken, Leonhards wackeligen Ofen mit Scheiten füttern und ruhig Blut bewahren, wenn das feuchte Zeug nicht anbrennen will. Ob ich meinen Zimmergenossen die Wärme entziehen soll? Sabaoth Beil und Schürhaken in die Pranken drücken? Aber nein: er liebt es ja, sich seinen »Körper bewußt zu machen« und wenn ich das Ergebnis der Kleingruppen-Heizdiskussion ignoriere, verhelfe ich ihm einmal mehr zu moralischer Überlegenheit. Unser Kämmerlein ist also dank des Schweißes in meinem Angesicht adventskuschelig und weihnachtswarm. Es fehlt lediglich der Lebkuchenduft: in diesem Hause ißt man makrobiotische Körnerkringel, ohne Zucker, mit Zuckerkarotten statt Korinthen.
Die Vorweihnachts-Groupies wimmeln im Haus umher, der morsche Fußboden kracht. »Mobile Meditation« heißt das: eine mentale Vorbereitung auf die therapeutische Erlösung von allen Neurosen. Wer der Messias ist, wird sich erst herausstellen, im Zuge des dynamischen Geschehens, das uns alle erfassen wird, wenn Leonhard das Startzeichen gibt, indem er mit der alten Kuhglocke bimmelt, die an einem Haken im Vorraum dahinrostet.
Aus: Joseph im Advent
Ludwig Roman Fleischer, Herbergsuche.
Andere Weihnachtsgeschichten.
108 Seiten, 3. Auflage 2004 (Erstauflage 1995).
ISBN 3-9500149-3-4.
Preis: € 14.- SFr 21.-