2004-12-17
Joseph im Advent
Daß uns die Gruppe guttun wird, hat Miriam gesagt, daß die Gruppe die letzte Chance ist, unsere Beziehung zu retten: lauter offene Menschen, die alles zulassen, deren Ziel es ist, auch bei größter individueller Unterschiedlichkeit miteinander zu können. Miriam und ich haben zuletzt nicht mehr miteinander gekonnt, aber gemeinsam mit all diesen Könnern, die mit jedem können wollen, könnten wir das Miteinanderkönnen wieder könnenlernen. Die offenen Menschen werden sich im Dezember an Leonhards Erbhof selbsterfahrungsgruppieren. Leonhards Erbhof liegt in der Einschicht, zwischen Berge gekeilt, die gnädig die Sicht auf den Rest der Welt verstellen. Man kann dort, so Miriam, »zu einer natürlichen Existenzform und damit zu sich selbst finden.« Durch das schiefgemoderte Holzhaus pfeift der Wind, bringt die Dachschindeln zum Klappern, das Wasser pflegt im Winter ein- und der Hintern am Plumpsklo festzufrieren. Leonhard ist ein akademisch graduierter Aussteiger, der seit einem Jahrzehnt nach einer Frau Ausschau hält und sich regelmäßig in eines seiner Therapie-Groupies verliebt, das regelmäßig davon zunächst nichts wahrnimmt und sodann die Flucht nach hinten antritt.
Miriam und ich haben zuletzt nicht mehr miteinander gekonnt, weil ich nach einem Auftritt in einer Folkkneipe mit einer minderjährigen Bewunderin geschlafen habe und Miriam sich zur gleichen Zeit in einen mehrjährigen Makrobioten verliebte. Der Makrobiot ist ein feister, kurzsichtiger Titan und frönt der esoterischen Literatur. Im übrigen wirkt er blaß wie einer seiner Kefirpilze, von deren Ausscheidungsprodukten er jeden Morgen einen Liter in sich hineinschlürft, um »innerlich sauber« zu bleiben. Es versteht sich von selbst, daß der Makrobiot unserer Therapiegruppe angehört, denn wir sind über kleinbürgerliche Beziehungsmodelle erhaben.
Meine Anregung, auch die kleine Bewunderin aus der Folkkneipe in die Adventsgesellschaft aufzunehmen, hat Miriam allerdings in einen heiligen Zorn versetzt. Schließlich habe sie mit dem Kefir-Guru nicht geschlafen, sondern sich lediglich einer platonischen Faszination hingegeben. Diese Hingabe bestand darin, daß Miriam dreimal wöchentlich erst im Morgengrauen nach Hause kam - in esoterischer Euphorie - und wir drei weitere Wochentage damit verbrachten, darüber zu streiten. Am siebenten Tag pflegten wir zu ruhen. Der Guru weilte an Wochenenden zu Meditationszwecken am Lande. Seit mehr als einem Monat verweigert sich mir Miriam, denn wir müssen erst miteinander ins reine kommen, ehe wir unsere Beziehung zu den liebgewordenen Bedingungen wiederaufnehmen können. Während Miriams platonischer Faszinationsphasen habe ich dreimal soviel geraucht wie sonst, dreimal weniger gegessen und daher sechs Kilo abgenommen, weshalb ich gegen den makrobiotischen Vollwertwanst wirke wie eine Weizenähre gegen einen Brotlaib. Diese Buße hält Miriam für recht und billig. Es hat ja mein Zeugestäbchen immerhin fast fünf Minuten lang in der Bewunderin aus der Folkkneipe gesteckt, während Miriam bloß dreimal die Woche eine Nacht lang der platonischen Esoterik erlag. Seit einem Monat verweigert sie sich mir also, obwohl sie schon vor einem Jahr die Pille abgesetzt hat, weil sie angeblich ein Kind von mir will.
Das ist die schönste Zeit im Jahr. Ich brenne darauf, auf Leonhards Plumpsklo festzufrieren und mich von den esoterischen Ausdünstungen des Makrobioten erwärmen zu lassen, dessen platonische Faszination Miriam noch immer gefangenhält, wiewohl sie mich »in keiner Weise in Frage stellt.« Wenn ich diese Therapie überlebe, dann kann mich keine Diagnose mehr erschüttern.
Ludwig Roman Fleischer, Herbergsuche.
Andere Weihnachtsgeschichten.
108 Seiten, 3. Auflage 2004 (Erstauflage 1995).
ISBN 3-9500149-3-4.
Preis: € 14.- SFr 21.-