2004-12-17
Aus Gottfried Kemps Tagebuch
Weihnachten im Entzug - Teil VII
Was habe ich hier verloren? Gewohnheiten. Für neue Gewohnheiten eingetauschte Gewohnheiten. Das ist der Sinn der Therapie: sich an das Fehlen bestimmter Gewohnheiten zu gewöhnen und neue zu entwickeln. Gewohnheit ist die Mittlerin zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erregung und Sättigung, zwischen Furcht und Kühnheit, zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Geburt und Tod. Nach der kurzen Kleinkindzeit, da man sich als dritte Person ins Abenteuer des Existierens, stürzt, gewöhnt man sich an sich und nennt sich Ich, wird aus Gewohnheit zum Gewohnheitsträger. Nomadentum und Jagd Ackerbau und Viehzucht, Architektur und Hygiene, Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Religion: die Geschichte der Menschheit ist ein Ringen um Gewohnheiten. Nur um Gewohnheiten kann man kämpfen, nur Gewohnheiten kann man erringen, nur um Gewohnheiten trauern. Trauern um die Gewohnheit der Geborgenheit bei der Mutter, trauern um die Gewohnheit der Geborgenheit bei der Geliebten, trauern um die Gewohnheit daran, dass einer lebte, der nun tot ist. Der Tod eines Anderen schmerzt nicht, es schmerzt die verlorene Gewohnheit seines Daseins; der Verlust der Kindheit schmerzt nicht, es schmerzt nur der Verlust der Kindesgewohnheiten; der Verzicht auf das Gift schmerzt nicht, es schmerzt der Verlust der Gewohnheit, es sich zuzuführen.
Jetzt ist die Therapie zur Gewohnheit geworden. Zeit, sie zu beenden. Dann werde ich mich nach ihr sehnen wie nach all meinen anderen zur Erinnerung verkommenen Gewohnheiten, den besseren und den schlechteren. Der Verlust einer Gewohnheit ist Stückchen Tod. Wieviel ich schon gestorben bin!
Ludwig Roman Fleischer: „Weihnachten im Entzug“, SISYPUS, 2004, 14.- €
ISBN: 3-901960-25-2