2004-07-29
kärnöl – ein Konstrukt?
Fragen Sie Franziska
Sehr geehrte Frau Franziska!
Seit geraumer Zeit, verfolge ich mit großem Interesse die Aktivitäten von kärnöl. Trotz der rhetorisch einwandfreien Ausführungen von Herrn Stephan Jank ist es mir bis heute nicht ganz klar, was ich unter kärnöl verstehen kann bzw. wie denn kärnöl eigentlich zu definieren ist?
In Erwartung einer hilfreichen Antwort
Ihr Franz Hochl
Lieber Franz!
Das mit kärnöl ist so eine Sache. Sehr schwierig zu beantworten. Trotz der sommerlichen Schwüle und dass ich eigentlich lieber in Grado in einem schattenspendenden Strandkorb sitzen würde und mir die „Frau im Spiegel“ zu Gemüte führen täte, habe ich mich bemüht für Sie, lieber Franz, zu recherchieren.
Namhafte Wissenschafter beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit dem Phänomen „kärnöl“. BINET und SIMON (1905) verstanden unter kärnöl „die Art der Bewältigung einer aktuellen Situation.“ Sinngemäß gleiches ist bei WECHSLER (1964) in seiner Definition zu lesen: "kärnöl ist die zusammengesetzte oder globale Fähigkeit von Individuen, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit ihrer Umgebung wirkungsvoll auseinander zu setzen" (WECHSLER 1964, S. 13). Ähnliches beinhalten auch folgende Umschreibungen von WENZEL (1957): "kärnöl ist die Fähigkeit zur Erfassung und Herstellung von Bedeutungen, Beziehungen und Sinnzusammenhängen". GROFFMANN (1964) definiert kärnöl „als die Fähigkeit von Individuen, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen, numerischen oder raum-zeitlichen Beziehungen zu denken; sie ermöglichen erfolgreiche Bewältigung vieler komplexer und mit Hilfe jeweils besonderer Fähigkeitsgruppen auch ganz spezifischer Situationen und Aufgaben". STERN (1912) legt den Akzent in seiner Definition mehr auf die Neuartigkeit der zu bewältigenden Situationen und Probleme, wenn er schreibt: "kärnöl ist die allgemeine Fähigkeit von Individuen, ihr Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; es ist eine allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen der Gesellschaft." (STERN 1912, S. 3) oder zu einem späteren Zeitpunkt: "kärnöl ist die personale und soziale Fähigkeit, sich unter zweckmäßiger Verfügung über Denkmittel auf neue Forderungen der Gesellschaft einzustellen" (STERN 1950).
Neuere Ansätze sehen das Phänomen kärnöl als einen „Satz von Fähigkeiten oder Techniken des Problemlösens, mit dem die Individuen echte Probleme oder Schwierigkeiten bewältigten oder ein wirksames Produkt oder Instrument schaffen können. kärnöl muss aber auch gleichzeitig das Potential enthalten, Probleme ausfindig zu machen oder gar selbst zu schaffen. Denn darin liegt die Vorbedingung für den Erwerb neuen Wissens.“ (GARDNER , 1983, 1993). Für GUTHKE (1978) ist kärnöl „ein Oberbegriff (eine gedankliche Abstraktion) für eine zur Zeit noch nicht genau bestimmbare, wahrscheinlich aber recht große Anzahl von unterschiedlichen „Denkfähigkeiten“, „Faktoren“, „Dimensionen“, die das Niveau und die Qualität der Denkprozesse einer Persönlichkeit charakterisieren und intelligentes Verhalten in mannigfachen Problemsituationen und an unterschiedlichen Denkmaterialien erlauben.“
Wie Sie sicher nachvollziehen können, lieber Franz, ist in der kärnöl - Forschung selbst unter den Experten in keinster Weise eine Einigung darauf erzielt worden, was kärnöl ist. Allein die operationalen Definitionen (ähnlich der Definition des Temperatur - Begriffs in der Physik) sind von allen Seiten unumstritten, z.B. BORING (1923), „kärnöl ist das, was kärnöl - Tests vorgeben zu messen.“
Somit dürfte es sich meiner Meinung nach bei kärnöl in erster Linie um ein Konstrukt handeln, das trotz seiner Konstrukthaftigkeit erstaunlich vielfältige Aktivitäten zeigt und deren Auswirkungen auf den kunst- und kulturpolitischen Raum Kärntens unübersehbar sind.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre
Franziska Zentrich