2004-08-24
Weihnachten im Entzug - Teil I
Kap. 11
Donnerstag Nachmittag: Harrers Schreibwerkstatt, Harrer als eingeplante Ausnahme, als Importeur der Außenwelt, der keinerlei therapeutische Funktion oder Autorität hat, an den sich keinerlei Heilserwartungen richten. Man merkt es daran, daß die kreativen Schreiber häufig überhaupt nicht, und wenn, dann widerwillig und mit deutlicher Verspätung zur Schreibwerkstatt kommen. Alfred Leber, der Hausverständige vom Dienst, ist außer Haus, weil er einen Stockzahn wurzelbehandeln läßt. Gottfried Kemp befindet sich in der Psychogruppe, Stefan Soma liegt mit einem grippalen Infekt darnieder, dem er homöopathisch zuleiberücken will. Er mißtraut schulmedizinischen Präparaten, wiewohl er außermedizinischen Präparaten nur allzu lang nicht mißtraut hat. Die Kulovits ist – wie ihre Geliebte Dorn – „einfach net guad drauf“ und Harrer hat keine Lust, die beiden zu verpfeifen; die Fenz liegt wegen Schwangerschaftsproblemen im Bett, Christian Lagreiner ist – wie immer – in Anwesenheit abwesend. Die kreative Schreibgruppe hat sich auf den rabiaten Heimo Sterk, die naive Lisplerin Sandra Büllwatsch, sowie die beiden Erstphasler Thomas Häusler und Andreas Kubsch reduziert. Letzterer beschmust die halb in seinen Schoß gefallene Büllwatsch. Keiner ist mit weniger als einer Viertelstunde Verspätung aufgetaucht, alle haben versichert, heute eigentlich überhaupt nicht in Stimmung zu sein. Harrer mußte angestrengt an sein überzogenes Bankkonto denken, um den Krempel nicht hinzuhauen. Aber das Hinhauen des Krempels brächte für Harrer nicht bloß finanzielle Probleme mit sich: Lehrmann hat mit dem Literaturimpresario Helfrich ein Sponsoring der Schreibwerkstatt ausgehandelt. Helfrich wäre von Harrer im Falle von dessen Handtuchwurf bitter enttäuscht und würde ihn womöglich nie wieder zu einer Lesung einladen. So jedenfalls denkt Harrer, beinah gleichzeitig die Niedrigkeit seines Denkens ahnend, das Helfrich einen Harrer-artigen Charakter zuschreibt, den er wohl gar nicht hat.
Das Sponsoring seiner Schreibwerkstatt hat Harrer gerade heute zu einer gewissen Motiviertheit angeregt und ihn ein Thema ausbrüten lassen, das er - bei allem Standard-Defätismus – für außerordentlich ergiebig hält: Meine erste Erinnerung an mich. Harrer hat das zu Schreibende zuvor gesprächsweise abgewickelt, mit großer Befriedigung dem Scheppern lauschend, unter welchem der Minutenzeiger der Kaffeehausuhr vorwärtszuckelte: mehr als die Hälfte der Schreibzeit ist bereits durch das Gerede aufgebraucht. In einundvierzig Minuten wir sich Harrer – um einen Tausender reicher (oder eigentlich: um denselben weniger arm) – empfehlen und seiner Wege gehen, bis etwa Sonntag erleichtert sein, als ob nie wieder eine Schreibwerkstatt stattfände, Montag und Dienstag leicht beunruhigt ob der nächsten, unerbittlich bevorstehenden, und ab Mittwoch wieder unter gräulichem Kreativitätsdruck, womit er am Donnerstag die Schreibgruppe unter Kreativitätsdruck setzen soll. Meine erste Erinnerung an mich. Da ist sogar der eingebildete Hübschling Lagreiner gesprächig geworden: „I erinner mi, daß i auf´m Schoß von da Muatta gsessen bin und versucht hab, ihren Busen aus´m Dirndeldekcholltee außez´fischen. Natialich hab i´s nit gschofft und vom Vottan a paar Watschen kriagcht,“ tirolert der bezopfte Adonis, „ i woaß no, daß es ziemlach lang dauert hat, bis da Votta bemerkcht hat, wos i vorhab. Dann isch er aba ziemlach heftich wurn, woaßt eh, mei Votta, der´s notwendach ghabt hat, in Puritaner z´spühn.“
Lagreiner setzt das allgemeine Wissen um seines Erzeugers pornographische Berufstätigkeit voraus. Überhaupt hat Harrer das Gefühl, daß diese erektionsliterarische Beschäftigung von Lagreiner Senior dem Junior wichtig, wenn nicht gar teuer ist. Ohne den väterlichen Pornokeller stünde das existenzielle Gebäude des Jungen auf höchst unsicherem Fundament, er erklärt sich seine Persönlichkeit aus dem väterlichen Kellermetier. Schreiben tut er freilich nicht darüber. Harrers Anregung, den mütterlichen Dirndelbusen als Leitsymbol zu benutzen, als Metapher der Ich-Werdung darzustellen, hat Christian Lagreiner kalt gelassen. Er ist im Moment in die Prognosen einer Schmierblatt-Astrologin vertieft. Nicht uninteressant ist das erste Ich-Bild des Neulings Thomas Häusler, eines rötlich beflammten Albinos im dunkelblauen Jogginganzug: Weihnachtsbescherung, Familienversammlung vor dem Lichterbaum, „und auf amoi is mei Muada umgfoin und die Großötan ham mi ausen Zimmer außezaht. Mei Muada woara Voialki. Des is´s a heit no, trotz olle ihre Entziehungskuren...“
Ah, wie man diese Anekdote symbolisch aufladen und metaphorisch überhöhen könnte! Das Christkind-gläubige Kind in großäugiger Bescherungserwartung, Jung-Jesus in problematischen Familienverhältnissen, die Großeltern Ochs und Esel an der Krippe, und da kollabiert die Jungfrau Maria im Rausch und bekotzt sich im Kerzenschimmer!
„War der Vater dabei?“ hat Harrer sich erkundigt.
„Mein Vodan hob i net kennt.“
(Der Vater also unbekannt wie Gott Sabaoth!)
„Und deine Mutter hat allein mit dir gelebt?“
„Bei die Großötan.“
„Freund hat sie keinen gehabt?“
„Naa. Häxens zum Saufen.“
Die Großeltern als hermaphroditischer Nährvater, genannt das Pepperl. Harrer grinst, die erloschene Pfeife im Mundwinkel. Freilich eine tragische Geschichte. Bald hat das aus der Wiege geplumpste Christkindl seinerseits zu saufen angefangen. Vorbereitet durch die schnapsangereicherte Muttermilch, die Alkohol-Fahne bei der Fläschchen-Verabreichung. Mit sieben oder acht Jahren einmal das Resterl in Mamas Lieblingsglas probiert, als die Mama schon eingenickt ist; oder die Mama hat von sich aus was angeboten, dem innaten Fütterungstrieb der Mütter gehorchend: da nimm einen Schluck und gib Ruh, sonst gibt´s Watschen. Und die ersten Taschengeldbiere und das Männlichkeitsgesaufe der Pubertät, das bei den anderen gerade noch innerhalb der Grenzen einer zumindest latenten Nüchternheit abläuft. Nun hat auch Thomas bereits drei Entziehungskuren hinter sich, und alles hat unter dem beleuchteten Christbaum angefangen, am Heiligen Abend, dem Geburtsfest des Erlösers.
Ein Blick über Häuslers Schulter und in sein Manuskript: er verarbeitet sein Initiationstrauma zum Knüttelgedicht:
Weihnachten ist´s in der Stube
Und ich bin ein kleiner Bube,
der sich aufs Christkind freut,
doch gibt´s keine Freude heut.
Der Mutter ist nicht wohl,
vom Schnaps da ist sie voll...
Fortsetzung folgt.
Ludwig Roman Fleischer: „Weihnachten im Entzug“, SISYPUS, 2004, 14.- €
ISBN: 3-901960-25-2