2003-03-20
Die Alz, der Ort, die Kirche, das Grab - Teil II
Eine Kindheit TEIL 2
Der Wind streicht durch das Kornfeld. Klatschmohn und Kornblumen leuchten durch das
Getreide. Mitten im Dorf liegt das Feld und gehört dem Schneidermeierbauer. Sein Bruder
hat ein Lebensmittelgeschäft und einen "Kracherlgroßhandel" (Limonade).
Die Schneidermeiers grenzen im Westen an das Feld. Auf der gegenüberliegenden Seite ist
das Gasthaus Ofner, ein Lagerhaus, eine Baracke, in der ich noch die zwei ersten
Volksschulklassen besucht hatte, und noch ein Gasthaus. Auf der Nordseite des Feldes,
am Abhang zur Alz, steht die mächtige Eiche und wenn man hinaufklettert, kann man das
ganze Alztal sehen. Am Südhang ist der Schuster Gigglberger, die Bäckerei Ströber, die
Schule mit ihren zwei Klassenzimmern, das Gasthaus mit der Fleischhauerei Ströber,
die Post, die Kirche, davor die fünfhundert Jahr alte Linde und das Messnerhaus.
Das war mein Dorf.
Es war ein Nachmittag im April und ungewöhnlich warm. Ich mußte zum Kommunionsunterricht.
Viel, viel lieber wäre ich zur Alz gegangen. Mißmutig schlenderte ich zum Messnerhaus,
über das Stoppelfeld, welches um diese Zeit normalerweise schon gepflügt war, begegnete
der Schneidermeier Gabi, die sich mir anschloß. Sie hatte immer riesige Schleifen an den
Zöpfen, einen Propeller mitten auf dem Scheitel und eine mordsdrumm Schleife an der
Schürze. Sie wollte meine beste Freundin sein, aber was sollte ich mit ihr anfangen? An
der Eiche blieb sie am untersten Ast hängen, hatte schreckliche Angst, sich mit den
Lianen über die Schlucht zu schwingen, sprang als erste von den Schienen, wenn der Zug kam
und hing beim Turnen wie ein Mehlsack am Reck.
Die meisten der katholischen Drittklässler, und es waren fast alle katholisch, saßen schon
in ihren Bänken. Der Pfarrer Bergman, gefolgt von der Schwester Beate, der
Religionslehrerin, betrat den Raum, bohrte in der Nase und kratzte sich am Hintern.
Die Christa in der ersten Reihe flüsterte, "Wenn der noch einmal seine Finger auf meinen
Tisch legt, speie ich drauf, mir graust." Vielleicht fünf Minuten nach Beginn des
Unterrichts öffnete sich zaghaft die Türe und herein schlich die Maier Erika. Der Pfarrer,
der mit dem Finger gerade wieder zur Nase fahren wollte, erstarrte in der Bewegung. Sie
hatte, was im Religionsunterricht strengstens verboten war, kurze, das heißt bis zum Knie
reichende, weite Clothhosen an. Der Bergmann stürzte auf sie los, riß sie an den Haaren,
zog sie an den Ohren, watschte sie ab und versohlte ihren Hintern und je mehr sie schrie,
um so mehr drosch er auf sie ein. Wir waren wie gelähmt. Der Pfingstl Horsti starrte
entsetzt auf den Pfarrer, weil er, normalerweise, zu Beginn jeder Religionsstunde Prügel
bezog und die Mädchen höchstens einen Tatzen bekamen. Irgendwann entwischte die Erika und
rannte schreiend zur Türe hinaus.
Der Pfarrer war so erschöpft, daß er der Schwester Beate den weiteren Unterricht überließ.
Meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an die Erika, an die Alz, an die Eiche und so
hatte ich nicht ganz verstanden, um was es ging. Ich hörte nur, daß der Pika Stefan gefragt
wurde, was Jesus Christus verdient hätte. Seine rasche Antwort war: "Nichts!" Die
Schwester Beate riß ihn an beiden Ohren hoch und schrie ihm nochmals die Frage ins
Gesicht. Er meinte kleinlaut, dass er nicht wisse, ob Christus gearbeitet hätte, und ihm,
dem Stefan, drohte der Pfarrer doch immer, dass er eine Tracht Prügel verdienen würde
und das hätte Christus bestimmt nicht verdient. Gottseidank zeigte die Strasser Fannerl
auf und meinte, daß Jesus das Himmelreich verdient hätte. Der Stefan bekam noch
eine Kopfnuss und wurde heftig an den Schultern gerüttelt, damit er sich das endlich
merken würde.
Zur letzten Probe für die heilige Erstkommunion mußten wir in die Johannes-Kirche kommen
und die Beichte ablegen, wobei ich mich immer anstrengen mußte, etwas Sündiges zu erfinden.
Als letzte Sünde gestand ich: "Ich habe gelogen". Als Buße für meine Sünden leierte
ich zwei Vaterunser herunter und setzte mich mit der Losert Ursel in die hintere
Kirchenbank. Der Pfarrer Bergman gestaltete den Unterricht in der Kirche auch nicht
spannender. Es war ungemein langweilig und der Ursel fiel nichts Gescheiteres ein,
als ihre unanständigen Darmgeräusche zu produzieren. Alle drehten sich um,
die Ursel auch, da aber niemand mehr hinter uns saß, schaute sie in den Kirchenhimmel und
bekreuzigte sich. Ich bekam einen Lachkrampf, grub meinen Kopf in die Armbeuge, die
Tränen schossen mir in die Augen und es schüttelte mich vor Anstrengung, das Lachen
unterdrücken zu wollen. In der Kirche zu lachen war nicht erlaubt und ich wußte,
was mir blühen würde, wenn die Schwester Beate auf mich aufmerksam wurde. Plötzlich
legte sich ein Arm um meine Schulter und die gefürchtete Stimme flüsterte, ich solle das
Ganze doch nicht so tragisch nehmen, die Erstkommunion führe uns zu Gott und wir
würden dann richtige Gotteskinder werden. Ich stammelte etwas von "keine Luft zu bekommen"
und dass ich dringend hinaus müßte. Draußen heulte ich vor Erleichterung los.
Ich trocknete mir die Augen, da fiel mein Blick auf eine schneeweiße Muttergottesstatue
mit ausgebreiteten Armen, flankiert von je einem Engel. Darunter befand sich eine Tafel,
auf der geschrieben stand: "Eine Ruhestätte von 151 Kindern politisch verfolgter Eltern.
1939 - 1945. Sie kehren heim zu Gott im Schutze ihres Engels."