2003-02-27
Die Alz, der Ort, die Kirche, das Grab - Teil I
Eine Kindheit TEIL 1
Das Wasser glitzert, die Sonnenstrahlen tanzen auf den Wellen, aus dem Flußbett leuchten die großen weißen Steine , manche sind rostrot, wenige grün.
Das war „meine“ Alz, von den „Strempfen“ bis zu den Brückenpfeilern. Die "Strempfen" waren drei Pfosten, die von einer Fährstation über geblieben waren. Um auf die Pfosten zu gelangen, mußten wir uns an das Ufergebüsch klammern, mit den Füßen vom Ufer abstoßen und möglichst neben den Pfosten im Wasser landen. Es erforderte einige Geschicklichkeit, denn hier war das Wasser tief. Niemand von uns konnte richtig schwimmen, was aber keiner zugab. Wenn es uns glückte, an den glitschigen Stämmen hinaufzuklettern und für Sekunden die Balance zu halten, kam der schönste Augenblick: Wir stießen uns ab und hechteten mit einem Bauchfleck in die Strömung. Wir mußten nur ein wenig mit den Armen und Beinen rudern und die starke Strömung der Alz trug uns weit flußabwärts bis zu den Pfeilern, wo es wieder seicht wurde und wir darauf achten mußten, nicht von den Steinen aufgeschürft zu werden. In den langen heißen Sommern, wenn die Alz zu einem Rinnsal verkam, konnten wir bei den "Strempfen" immer noch dümpeln.
Wieder wartete ich sehnsüchtig auf den Sommer, der für mich meistens schon mit den vierzehntägigen Pfingstferien begann. Dieses Jahr war es Mitte April ungewöhnlich warm und da die Schneeschmelze mit ihrer graubraunen Flut vorüber war und die weißen Steine wieder aus dem Flußbett leuchteten, sauste ich gleich nach der Schule in die Alz-Au, zog Schuhe und Strümpfe aus, suchte die seichteste Stelle über den Fluß und balancierte vorsichtig, mit meinen Schuhen in der Hand und den Strümpfen um den Hals, über die glitschigen Steine. Ich wollte, wie immer auf die andere Seite zu den „Strempfen“. Die Füße "brizelten" schon vor Kälte, just da fiel mir ein, daß uns der Lehrer Pichlbauer vor ein paar Wochen in Heimatkunde erzählt hatte, daß die Alz der reißendste Fluß im ganzen Land war oder noch ist? Und daß einen die Fluten bis hinter die mächtigen Brückenpfeiler der Eisenbahn reißen, und man dort in den vom ewigen Mahlen der Steine entstandenen Löchern und Wirbeln ertrinken konnte oder noch kann, mußte oder noch muß?
Weil ich mich mit dieser Feststellung und der vielen offenen Fragen beschäftigte und nicht mehr so genau auf die Steine achtete, rutschte ich aus, haute mir die Knie und Ellenbogen blutig, riß die Hände hoch, damit die Schuhe nicht noch nässer würden, wurde im nächsten Augenblick von der seichten in die tiefere Rinne gewirbelt und driftete schneller als ich dachte, in die Nähe der tödlichen Brückenpfeiler. Ich schleuderte die Schuhe ins Wasser und klammerte mich an einen großen Stein. Ich fror ganz erbärmlich. Keine einzige Menschenseele war an und schon gar nicht in der Alz. Ich rappelte mich auf, konnte gottseidank wieder stehen und hantelte mich vorsichtig, immer wieder an den Steinen festklammernd, an das Nordufer.
Das Kleid konnte ja trocknen, auch die Unterwäsche, was aber sollte ich daheim wegen den verschwundenen Schuhen sagen? Es waren Gesundheitsschuhe mit Einlagen und ich besaß nur dieses eine Paar. Auf keinen Fall durfte ich die Geschichte so erzählen wie sie war. Ich hätte nie mehr allein zur Alz dürfen, denn ich war erst neun, ein Mädchen, zu dünn für mein Alter und Mitte April ist die Alz noch zu kalt, zu tief und zu reißend.
Ich mußte unbedingt zu meiner Tante. Sie wohnte aber auf der Süduferseite. Ich rannte die Bahnböschung hinauf, in Blitzes Eile auf den ca. dreißig Zentimeter breiten Gitterrosten, die nur für den Bahnwärter angebracht wurden und sonst für niemanden, über die Eisenbahnbrücke, rutschte am anderen Ende der Brücke die viel höhere und sehr steinige Böschung hinunter, rannte durch den Auwald den steilen Hügel hinter unserer Siedlung wieder hinauf, schlich an unserem Haus und am Bahnhof vorbei und keuchte den Schneidermeierberg hinauf. Dann war ich endlich am Ziel. Mein Füße schmerzten. Es war spät geworden. Der Onkel war schon von der Arbeit zu Hause und hatte den Wimpasinger Alois, den Bauern, der immer beim Frühschoppen dabei war und auch nie zum Mittagessen heimging, weil er keine Frau im Haus hatte, mitgebracht. Ich war blutverschmiert und verdreckt. Meine Tante schalt mit mir, schabte den Dreck ab und verband meine Knie. Alle drei hörten sich entsetzt meine Geschichte an. Die Tante schalt noch mehr, der Onkel schüttelte den Kopf und sagte immer wieder: „Kind, daß Du das nie mehr machst, aber die neuen Schuhe bekommst Du von mir. Du hast ja heuer Erstkommunion.“ Der Alois mahnte zum Aufbruch, damit sich meine Eltern nicht sorgten und mein Onkel und er könnten doch meinen Vater zu einem Bier zum Ofner einladen. Dann wäre alles halb so schlimm. Außerdem sollte ich dem Lehrer Pichlbauer ausrichten, daß er sich nicht so um die Fließgeschwindigkeit der Alz kümmern sollte, sondern vielmehr darum, daß die "Hoechster" das Wasser, daß sie der Alz entnehmen, genauso sauber wieder zurückgeben müssen und nicht diese grauslich stinkenden giftigen Abwässer unterhalb vom Wehr einfach in die Alz leiten.