2003-01-11
Die blaue Wand - Teil I
Rhombenmuster
Wenn die Sonne am Nachmittag im obersten rechten Winkel des Fensters hereindrängte, sich in den saftigen roten und gelben Begonien, die am Fensterbrett standen, ein wenig verlor, bekam die blaue Wand ihr leuchtendes Blau.
Die vielen Figuren, hervorgerufen durch Unebenheit des Verputzes, durch die von Laienhand unzählig aufgetragenen Farbschichten, erweckten in ihr eine magische Welt. Ja sogar eine Tapete mit Rhombenmuster in Rot und Gelb gehalten, blitzte da und dort hervor, gab der einen Delle den Kopfschmuck eines Pferdes ab oder ließ den langen Rock des kleinen Mädchens bunt aufleuchten. Manchmal bewirkte sogar nur ein winziger Farbtupf in Rot ,daß sie aufs neu ihre Geschichte ändern musste.
Jeden Nachmittag bat sie den Sonnenschein herbei, setzte sich auf den Knieschemel vor das Bett, starrte die blaue Wand an und erwartete vor sich hin- schimpfend die Sonnenstrahlen.
Doch wenigstens nur einen, nur für einen kurzen Moment, damit die blaue Wand wieder zu Leben erwachen würde, flehte sie.
Denn eines Tages, das wußte sie, würde sich diese Wand öffnen und eine phantastische, jetzt ihr noch unbekannte Welt, würde sich ihr öffnen. Sie würde aufrecht hineingehen, zu erst langsam, dabei ihren Blick schweifen lassen um dann zu laufen, zu springen und zu tanzen zu beginnen. Lauthals würde sie singen und lachen würde sie, unaufhörlich lachen, vor Freude und Glückseligkeit und nicht ein einziges Mal würde sie sich umdrehen.
Es würde ihr gar nicht in den Sinn kommen.
Doch es waren mächtige Steinmauern die das Haus hielten.
Sie konnte das Maß an den Fensternischen erkennen.
Nie wurden die Wände innen warm.
Manchmal, wenn es draußen eisig war und der kleine Sparherd in der Mitte des Raumes eine dürftige Wärme erzeugte, begannen sie zu schwitzen. Das Bild an der Wand hatte Tränen und Bäche zur Verfügung.
Mit ihren warmen Händen löschte sie die Rinnsale oder zog mit ihrem rechten Zeigefinger Linien, Straßen und Kleckse in das Wandbild, in der vagen Hoffnung, dass die Sonne am nächsten Tag ihr Werk zu neuem Leben erwecken würde.
Sie würde sich heute den Bettplatz neben der Wand, die diese modrig feuchte Kühle ausströmte, erkämpfen. Nie konnte sie sicher sein, wann es so weit sein würde. Wann sich diese blaue Wand öffnen würde.
Sacht legte sie die Hand mit den Handballen in ein kleines Loch gedrückt, vielleicht würde es hier beginnen?
Schon schlief sie tief und traumlos als ihr die Hand, nun kalt und klamm auf rauhe Decke fiel.