2006-11-01
Zügiger Tod
Der Mann zog sich seine Mütze tiefer ins Gesicht. Es wäre ihm peinlich gewesen, hätte jemand seine Tränen gesehen.
Was war bloß in den letzten Minuten geschehen? Wie konnte sein Leben so aus den Fugen geraten? Oft hatte er all das in Gedanken durchgespielt, doch jetzt war es Wahrheit, Realität geworden.
Wie hatte sie ihn nur verraten können? War er nicht immer gut zu ihr gewesen? Wer hatte ihr denn alles beigebracht, was sie heute konnte? Wer hatte sie genährt, geliebt, an- und ausgezogen, verzehrt, ja verletzt, getröstet, verstanden, missbraucht und doch gebraucht?
Acht Jahre seines Lebens, einfach so weggeworfen, weggelegt wie einen alten Mantel. Warum war sie nicht einfach geblieben? War er selber schuld daran? Hatte er ihr zu viel Freiheit schon gewährt? Sie war in den letzten Monaten nicht mehr dieselbe gewesen. Sie war so … erwachsen geworden. Was war aus seinem Mädchen geworden, aus seinem kleinen Kind, von ihm beschützt und doch verstoßen, um es sofort wieder zu beruhigen?
Es war ein Spiel gewesen. Ein Spiel zweier Kinder. Mal gewinnt der eine, dann der andere. Sie hatte ihm nicht nur sein Spielzeug entzogen, ihn verlieren lassen, sie hatte ihn zum weltweiten Idioten abgestempelt. Damit konnte, damit wollte er nicht leben müssen.
Darum fand er seinen neuen Plan genial. Er musste nur Franz loswerden, seinen Freund. Ha, Freund! Auch ihm hatte er die Freiheit genommen und ihn eingesperrt und verschlossen gehalten.
Er hatte Franz seine Kleidung angezogen. Dass er bereits tot gewesen war, würde niemand mehr bemerken. Seine Uhr war nur ein kleines Detail gewesen, später zertrümmert und vielleicht überflüssig, seine Ausweispapiere und sein Autoschlüssel kleine „Beigaben“. Niemand würde zweifeln, ob tatsächlich er der Tote gewesen wäre.
Franz war seit Jahren „verschollen gewesen“. Dessen Eltern hatten ihn längst als verstorben anerkannt, zum Glück waren damals beim Tsunami in Indonesien so viele Menschen ums Leben gekommen, dass Franz´ Tod nur eine „Formalität“ gewesen war.
Nun also lag er zerstückelt unter dem eben abgefahrenen Zug. Kein schöner Anblick, aber durchaus notwendig.
Er fuhr unauffällig mit öffentlichen Verkehrsmittel in sein neues Zuhause, das er Jahre zuvor schon angemietet hatte, immer wieder dort gewesen war, eingerichtet hatte, sogar Blumen waren dort, und haltbare Lebensmittel im Haus. Niemand hatte Notiz von ihm genommen.
Seit Tagen nun beobachtet er die Meldungen in den Medien, ihr Verhalten. Er hatte gehört, dass sie einmal eine Familie gründen möchte, ein „normales“ Leben führen möchte.
Ob sie ahnt, dass dieses neue Leben eines mit ihm wird?
Er musste sein Äußeres ändern, seine Sparbücher antasten und einen neuen Job finden.
Das Äußere war das geringste Problem: Glatze und Vollbart, getönte Linsen und ein neues Gebiss (er hatte seine Zähne so beschädigt, dass kein Zahnarzt an der Geschichte des Sturzes gezweifelt hätte). Selbst er erkannte sich im Spiegelbild nur schwer.
Neue Papiere: Wofür gab es den Schwarzmarkt?
Und Job? Gelernt war und ist eben gelernt. Bald schon würde er auch in dieser Firma anerkannt sein.
Hatte sie nicht in einem Interview gesagt, dass sie ihn auch irgendwie gern gehabt hatte? Und sie hatte erzählt, dass sie die Starke gewesen war. Es würde sich schon zeigen, wer wirklich der Stärkere sein wird. Und Vorbereitung ist alles. Das hatte er längst begriffen und auch schon gezeigt.
„Ich warte. Ich habe Geduld. Und dann nehme ich sie mir. Für immer. Bis ihr Tod uns scheidet!“
Elke und Jakob Kraiger, 2006-11-01, Nr. 2996
Daniela du bist unheimlich, denn du schreibst unheimlich gut!!!
irmi linder, 2006-11-30, Nr. 3017
atemberaubend spannend und zutiefst berührend im nicht-loslassen-können die seele der menschen ist dein revier, und dein schreiben ein geschenk
Genre, 2006-12-02, Nr. 3018
medien(öffentlichkeit) der stoff von "N. K." und unzähligen
anderen (gewaltsamen) verschleppten, deren identität
nie aufgegriffen werden wird!
tendenziöse welt(öffentlichkeit)!
http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Kindersoldaten/unicef2006.html