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2006-09-04 Der Weise von Villach “Das Wichtigste im Leben ist, dass man Arbeit hat und gesund ist”, sagt der weise Busfahrer aus Villach, dem Walther ungefragt aufs Maul schauen durfte. Das Volk hat ja den Vorteil, realitätsnah und zugleich wirklichkeitsfremd zu sein. Das widerspricht sich, höre ich einwenden? Für mich ist Realität die Abstraktion (oder der Abhub, zunächst ohne Wertung) dessen was ist, Wirklichkeit hingegen die Bedingung der Realität. Realität ist exoterisch und auswendig, Wirklichkeit esoterisch und inwendig, wenn man so will. Im real life, der Realität also, ist Arbeit sozusagen zur ersten ideellen Haut des Menschen mutiert, in der die zweite materielle, sein Körper und was der Mensch daraus durch Training, Kleidung, Make-up, Tattoos, Piercings und dergleichen mehr macht, sich spiegelt. Diese Häute sind sein Auswendiges, das er in (Aner)Kenntnis der Realität und Un(er)kenntnis der Wirklichkeit für sein alleiniges Wesen zu halten gelernt hat. Angesichts dessen stellt sich mir gemeinsam mit Walter die Frage, wenngleich nicht identischen Wortlauts, warum überhaupt Libido an etwas verschwendet wird, was im Blick auf den Lebenszyklus der Menschen und der persönlichen Erfüllung, die sich ein jeder in diesem erhofft, doch allein von Belang ist, insofern Arbeit eine materielle Bedingung des Lebens und der Körper eine materielle Bedingung der Partnerfindung ist – und wir reden hier vom reichen Europa, nicht vom Kampf gegen den Hunger oder gar von dem ums Überleben. Statt also sein Auskommen sichern, sich der Familie oder den Freunden widmen und den Rest an Zeit genießen zu wollen, trägt dieser Mensch mit den beiden Häuten[1], und womöglich noch einigen weiteren, offenbar sein gesamtes Hab und Gut (und damit wohl auch sein Sein) zu Markte. Und nur solange er in der Lage ist, dies zu tun, also zu arbeiten und dabei “nach etwas auszusehen”, gleich ob das der Schein ist, den die Stellung verleiht, der blendende Sixpack-Bauch oder das reizende Arschgeweih, solange darf er sich als Mensch fühlen. Dabei ist es real (aber nicht wirklich) unerheblich, was gearbeitet wird und wie es im Innern des bemalten und/oder malträtierten Körpers aussieht. Hauptsache, man hat Arbeit (= man gehört dazu), ist nicht krank (= die psychische und/oder physische Deformation bleibt subkutan und somit nach Außen unsichtbar) und kann dies durch die äußere Erscheinung unterstreichen (= man ist solange jung, bis man stirbt; jeder ist schön, und wo die Schönheit nicht von Innen kam, wird sie äußerlich aufgetragen; zudem ist mensch möglichst auch beruflich wichtig und unersetzbar, damit er die Dynamik der Jugend sich auch dort noch vorgaukeln kann, wo diese längst passé ist). Der kollektive Narzissmus, der einen jeden von uns in den letzten Jahrzehnten befallen hat, ist das seelische Spiegelbild (ohne dass diesem hierdurch Inwendigkeit zukäme) der Realität dieses Arbeitslebens. So nichtig die Phrasen der Werbung, die sich der mündige Konsument, dem diese Hohn lacht, gefallen lassen muss[2], so notwendig eitel der im Auswendigen lebende Typus Mensch, den sich das Arbeitsleben “erschaffen” hat. Der Gipfel scheint mir indes dort erreicht, wo dieser Typus in der Uniformität des Alltags und den Häuten des Marktes nicht nur den adäquaten Ausdruck seiner Individualität, sondern allen Ernstes sein Selbst verwirklicht sieht. Sancta Simplicitas, rief ich da nur zu gerne, wenn ich mich damit nicht auch selbst für dumm “verkaufte”. Es gibt im realen Leben nichts mehr, was nicht Warencharakter hätte (das hat mir Adorno erzählt). Wie der Kapitalismus das geschafft hat? Die Antwort ist leicht und vertrackt zugleich. Leicht ist es, die Arbeitsteilung verantwortlich zu machen und das, was der Fall ist, das Reale, systemimmanenten Entwicklungsnotwendigkeiten zuzurechnen, die jedem menschlichen Eingriff trotzen, zumal wenn die Entwicklung erst einmal zu weit gediehen ist (im Politikerjargon heißt das dann, etwas sei “unumkehrbar”). Eine fatalistische Sicht der Dinge, fürwahr. Da könnte man ja beim Feuer beginnen, das der Mensch sich einst nutzbar machte, und – wo schon vom Feuer die Rede ist – gleich die Erbsünde oder gar den Leibhaftigen selbst bemühen. Dann wäre der Mensch selbst schuld, und er könnte nichts tun außer sich raushalten oder mitmachen, was qualitativ auf dasselbe herauskommt. Letztere wäre die vertrackte Seite der Antwort, die dem Wesen des Menschen all das anlastete, was vermittels der Menschheit (zu)bereitet ward und wird. Oder in anderen Worten: die Bedingung der Realität, das Wirkende dahinter, wäre die schlechte Beschaffenheit des Menschen selbst, sein geerbter Makel oder sein Anspruch, gleich groß sein zu wollen wie Gott der Herr. Oder sollte ich besser Göttin die Frau und Mann statt Mensch schreiben? Wenn die Frauenbewegung von der Männerwelt spricht, die sie in der Regel als schlechthin unbeweglich hinstellt, will sie ja nicht allein die Unterdrückung der Frau durch den Mann anprangern, sondern nicht zuletzt behaupten, jene des Mannes sei schlecht und die Gegenwelt der Frau – wenigstens potenziell – besser. Sie, die Frauenbewegung, verortet den Anbruch der Utopie im Wesen der Frau und das starre Festhalten am status quo in jenem des Mannes. Und mit Letzterem hat sie realiter recht, einmal abgesehen davon, dass es einem Geschlecht an sich wohl kaum eigentümlich ist, starr oder beweglich zu sein. Worin besteht nun das Wesen der Männerwelt? Die Herren spielen und spielen und spielen (während sie die Frauenzimmer dazu verdonnern, zu kreißen, kreisen und kreisen, beim Gebären und um Herd und Heim). Und indem sie spielen, machen sie eine Menge Entdeckungen, erfinden Werkzeuge, beginnen zu rechnen und – gleichsam als Abfallprodukt – auch zu denken. Das geht eine Zeitlang gut, solange das Denken dazu dient, von manifestem Zwang und krassem Aberglauben zu befreien. Aber sobald dies erreicht ist, entwickelt sich das Denken zurück, um erneut dem Rechnen Platz zu machen und somit selbst berechnend und abergläubisch zu werden, indem es allein für Eingeweihte höheren Grades berechenbar sein und gegen den Rest sich abschotten will. Das Spiel der Männer wäre somit das Spiel der Welt, dessen Regeln darin bestünden, dass a) der Geist der Erfindung auf ewig hinterherzuhinken, b) die Erfindung als auswendiges Zeichen männlicher Aktivität selbst für Geist zu gelten hat, ferner c) diese Aktivität einer immer atemberaubenderen Beschleunigung zu unterwerfen ist, damit schließlich d) bloß niemand merkt, dass a) und b) der Fall sind[3]. Denn Zeit zum Aufholen ist selten, zumal heutzutage, denn je schneller erfunden wird, desto langsamer und weniger wird gedacht. Da sie immer beschleunigter auf den Markt geworfen werden, benötigen die Erfindungen nämlich, wie sinnvoll oder an den Bedürfnissen vorbeierfunden sie auch sein mögen, den gesamten Restbestand der Geisteskraft zu ihrer Promotion, ohne die sich kaum die Menge Abnehmer fände, die dem Produzenten den faden Mehrwert sicherte. Denn nützlich sind wenige dieser Erfindungen, aber nötig oder gar notwendig sollen und müssen sie alle sein. Der Schlachtruf der sogenannten Naturwissenschaft (als Vorläufer der sogenannten Wirtschaftswissenschaft), der da lauten könnte “Nur die neuste Erkenntnis gilt – sie ist das Beste, Echteste und Wertvollste”, dringt in jeden Winkel des daniederliegenden Geistes und lässt den US-Amerikaner Mister Proper und seine europäischen Adlaten auf und in ihm Frühjahrsputz halten, damit “angestaubtes Wissen” entweder entsorgt oder aber aufpoliert wird, um in neuem Gewande als dernier cri auf dem (Jahr)Markt der Eitelkeiten reüssieren zu können.[4] .Die objektive Entfremdung vom menschlichen Bedürfnis, wie sie im Prinzip des zwanghaften Erfindens, des “rastlos-hysterischen Geistes”, der sich primär an den Dingen, statt zunächst an den Ideen über diese abarbeitet, zutage tritt, findet seine verdinglichte Entsprechung auf dem Warenmarkt, den der Mensch zu frequentieren hat, um sich aus Notwendigkeit dessen Diktat zu beugen und zugleich seine eigene gar nicht so schlichte Existenz – wir leben wie gesagt in Europa – erst zu ermöglichen. Wenn wir also Hegel in dem Gedanken folgen wollten, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit, dann wäre in der Tat der Villacher Busfahrer ein philosophischer Weiser und das Volk, für das er spricht, das beste Volk aller erdenklich möglichen Welten. Die Spielmetapher bringt nach meinem Dafürhalten einiges Licht ins Dunkel, gerade wenn man sich vergegenwärtigt, wie einige uns fremde Kulturen “Arbeit” verstehen, als Tagewerk nämlich (!?). Wenn wir etwa an die ersten Eroberer Amerikas denken, so ist es augenscheinlich, wie der bereits sich entwickelnde europäische Zwang zur Tätigkeit mit dem “Nichtstun” der Ureinwohner dieses Kontinents kollidierte. Diese galten in den Augen der Spanier als faul, wenn sie nach ihrem Tagewerk in den Hängematten lagen, Pfeile schnitzen, Pfeife rauchten oder einfach nur dösten.[5] Die “trägen” Ureinwohner spielen nicht. Sie kreisen um das, was ihnen vonnöten ist und hören schlicht auf sich zu bewegen, wenn da nichts ist, was Bewegung, Aktivität erforderlich macht. Jedenfalls spielen sie nicht um ihr oder mit ihrem Leben. Insofern, und das scheint paradox und ist mit Sicherheit idealisierend, können sie ihr Tagewerk verrichten und anschließend in der Mittags- oder Abendsonne sitzen, ohne von der Zeit gehetzt zu sein. Fortwährendes Drehen (“Spiel” hat laut Kluges etymologischem Wörterbuch etwas mit “Tanz” zu tun), zumal schneller und schneller werdendes, erzeugt zentrifugale, das Kreisen um etwas, zentripetale Kräfte. Jene sind nach Außen, diese nach Innen gerichtet. Sollte der Mann an sich das nach Außen Gewendete, die Frau das nach Innen Gerichtete verkörpern, dann hätte es kaum noch der Schlange bedürft, ihr – oder vor allem ihm – Lust auf die Früchte in Nachbars Garten zu machen. Der Mythos der Erbsünde beschreibt folglich eher die Entzweiung einer Praxis, die aus dem gütlichen Miteinander von Tun und Nichtstun bestanden haben muss (labora et ora), als den persönlichen Sündenfall des ersten Paares oder gar des Menschen an sich. Das Selbstgenügsam-Innerliche als das Prinzip weiblicher Individuation, als das es zuweilen hingestellt wird[6], wäre demnach bloße Konsequenz stammesgeschichtlicher Entwicklung (alias Erbsünde) und nicht bereits vor dieser als das ewig Weibliche unveränderlich festgeschrieben. Dito gälte für das Aggressiv-Äußerliche des Mannes. Obgleich wir nicht wissen (oder ich nicht weiß), was nun Anlass war, dem Paradies zu entfliehen: Was wir geerbt haben, müssen wir uns offenbar gemeinsam neu er-werben, um es zu be-sitzen, also uns darauf niederlassen zu können. Nomadendasein war gestern! Es ist an der Zeit, dass beide Geschlechter sesshaft werden und den Geruch der Scholle lieben lernen, bevor sie ausziehen, das Fürchten zu lernen und es im selben Atemzug zu leugnen, indem sie die Welt “erobern”. Das ist Kitsch! Ich weiß… Kitsch ist, in geringfügiger Abwandlung eines Satzes Milan Kunderas, die Abwesenheit von Scheiße, von welcher oben. Das sind Phrasen! Ja sicher, denn wir müssten doch sagen können, was zu tun sei! Können wir aber nicht, oder doch? Vielleicht: Ora et labora (nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, sondern ein Aufruf zur Transferleistung), oder halten wir es dann lieber doch mit dem Weisen aus Villach, der vom Knecht aus Not zum Knecht aus Überzeugung wurde – oder hat ihn etwa bloß wieder die alte Schlange in neuer Verkleidung überredet? Ein Markt aber, auf dem es um alles oder nichts geht, ist kein Markt, sondern eine Arena (ein Kampfplatz; österr. veraltend auch: Sommerbühne, sagt mein Duden :-). Aber selbst diese ist, wie uns der Fußball lehrt, nicht dagegen gefeit, von den Marktschreiern in etwas Positives umgedeutet zu werden.
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