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2006-09-09 Der Zauber I. Ich hatte viele Sachen in meinem Rucksack verstaut, vielleicht zuviel für eine so kurze Reise. Allein zwei Kämme einpacken zu müssen, belastete mich. Aber so ist das eben, wenn man gefärbte Haare hat und sie immer zuerst mit einem feinen Kamm frisieren muß. Es war jedoch ein günstiges Omen. Wenn etwas Bedeutendes bevorsteht, denkt man gerade an die Kleinigkeiten. Zumindest bei mir ist es so. Gut, die Brote hatte ich im Kühlschrank gelassen, weil ich davon überzeugt war, schon nicht zu verhungern ... Und ich würde gar nicht ans Essen denken können, vermutlich noch lange nicht. Dafür nahm ich zwei Paar Socken mit, sowie ein T-Shirt, ein Buch über irgendwelche Gesetze, zehn Päckchen Zigaretten, sechs Dosen Saft, Streichhölzer, ein Heft, Schreibzeug, den Fotoapparat und ein Fernglas. Auch die Proculintropfen packte ich ein, da ich mit einem ungünstigen Ende rechnete - oder zumindest mit einem unvorhersehbaren -, und mit der irgendwann sicherlich eintretenden Müdigkeit. Und die Taschentücher. Und vieles mehr hatte ich eingepackt. An alles kann ich mich nicht erinnern. Mein Aufbruch war nämlich von gar nicht so immenser Bedeutung, wie ich es gern gewollt hätte. Ja, es ist nicht leicht, die einzige Marschteilnehmerin zu sein. Ich weiß aber noch, daß ich mich sehr früh auf den Weg machte, fast im Morgengrauen, und war deshalb mit dem Autobus bald am Fuße des Vmarna-Berges angekommen, dessen Konturen sich langsam aus der Dämmerung abzeichneten. Es war ein Samstag, das darf ich nicht vergessen, denn an einem Samstag wurde ich geboren. Ansonsten war mir der unspektakuläre Tagesbeginn ganz recht. Aber da war noch etwas, als ich am Morgen all den Kleinkram in meinem Rucksack verstaute und das Radio einschaltete: etwas über Tiere und Astrologie. Vielleicht auch über einen Fluß. Ja, und über Sextile und Trigone in vergleichenden Horoskopen von Menschen und Tieren. Ich zerbrach mir darüber nicht weiter den Kopf, aber während ich die letzte Zigarette vor dem Aufstieg auf den Berg rauchte, schlichen sich die Gedanken an Z. bei mir ein, eine Freundin, die ich Vorjahren in der Psychiatrie besucht hatte ... Sie wünschte sich sehnsüchtig einen Kaffee und nahm meine Hand, schlürfte kräftig und fragte mich flüsternd, ob ich an jenem denkwürdigen Morgen, an dem man sie eingeliefert hatte, Radio gehört hätte. Ich bejahte, konnte mich aber an nichts Besonderes erinnern. Mir war nicht wohl dabei, denn sie fixierte mich erwartungsvoll, fast mit einer Überzeugung in ihrem Blick. Ich konnte die Bedeutung einer Prophezeiung keineswegs erkennen, die sie einigen durcheinandergewürfelten Buchstaben der Worte aus dem Radio beimaß, wie sie es selbst sagte. Ich versuchte mir vorzustellen, laufend Buchstaben in Wörtern durcheinander zu würfeln, die neuen Bedeutungen zu entschlüsseln und gleichzeitig Radio zu hören, doch erschien mir das Unterfangen zu schwierig, beinahe nicht machbar. Und Z. kam wieder der duftende Kaffee in den Sinn. Ich nahm den steileren Weg, weil ich mir immer das Maximum abverlange und weil dort niemand war, der auf die Idee kommen könnte, in meinem Selbstvertrauen zu stöbern. Aber schon bald wurde mir unerträglich heiß. Ich gab auf und setzte mich auf einen Felsen, denn ich wollte mir die Wanderung nicht mit einem Schwächeanfall verderben. Zu hetzen schien mir diesmal völlig sinnlos. In Wirklichkeit jedoch zögerte ich, ein wenig hatte mich sogar der Mut verlassen. Weil mir noch eingefallen war, daß Z. auch etwas aus den Liedern herausgehört hatte, die an jenem Morgen im Radio gespielt wurden. Damals hatte ich gar nicht auf die Musik oder die Texte geachtet, aber ich wußte, es stimmte… und daß ich mit Z. nur deshalb nicht über die Botschaften sprechen konnte, weil ich mich an nichts memr erinnerte.Deshalb kam mir die Hitzepause gelegen. Denn vielleicht würde etwas passieren, ich aber registrierte die Dinge schon jetzt nicht mehr, geschweige denn, ich würde mich später an sie erinnern können. Ich trank die zweite Dose Saft leer und zündete mir automatisch eine Zigarette an, obwohl ich sonst während des Aufstiegs nie rauchte. Das Nikotin kroch mir angenehm in die Adern. Ich legte mich auf einen warmen Felsen und döste ein: Wir saßen im Schatten von Weinreben, eine Gruppe engen Freundinnen und Freunden. Ich glaube, es war in der Küste. Einen Augenblick lang - mir dämmerte, daß ich schlief und deshalb wohl träumte - dachte ich verstimmt, dass dies kein guter Anfang für hellseherische Träume oder einer tieferen Bedeutung wäre. Aber immerhin ... Es duftete nach Oliven und gesalzenen Filets, und ich träumte weiter. Ich erzählte der versammelten Runde eine Geschichte aus meiner Kindheit. Es war eine lustige Geschichte, wir schienen uns alle zu amüsieren. Als ich dem Kellner ein Zeichen gab, er möge uns Brötchen bringen, stellte ich überrascht fest, daß niemandem mein kurzes Schweigen aufgefallen war. Sie hatten nicht zugehört. Ich beobachtete sie, doch sie redeten und plauderten weiter, als hätte ich nie den Mund aufgemacht. Niemand fragte: „Und was ist dann passiert?" Ich wollte schon beleidigt sein und das sogar zeigen, aber dann bemerkte ich am Nachbartisch - nein, nicht schon wieder! — dich. Eigentlich schlussfolgerte ich mehr, daß es du warst, denn du sahst dir nicht besonders ähnlich. Du hattest einen Rucksack dabei und hieltest «eine zerdrückte Dose in der Hand. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen, als könnte dieser fadenscheinige Trick funktionieren, um nicht von dir erkannt zu werden. Denn möglicherweise sah ich mir auch nicht mehr allzu ähnlich. Wie aus Trotz bist du sofort aufgestanden, hast dir den zerrissenen, schmutzigen Rucksack umgehängt und dich zu unserem Tisch gestellt. Ich glaube, niemand bemerkte dich, keiner hatte dich erkannt, so daß ausgerechnet ich dich begrüßen mußte. Du holtest dir einen Stuhl und nahmst ganz dicht neben mir Platz. Ich vermochte nicht, dir in dein ältliches Gesicht zu sehen. Dein Lächeln war zu einer ekelhaften Linie verzerrt, ähnlich einer Drohung. Mir schien, du wolltest mich quälen, mir die Schuld an etwas geben - wahrscheinlich gleich an allem. Ich wollte dir schon sagen, daß du den Rucksack gründlich waschen solltest und dich selber gleich dazu. Dann zischte ich halblaut, du sollest verschwinden, und ich wollte noch mehr sagen, hätte sich nicht lediglich ein ekelhaftes Pfeifen aus meiner Kehle gelöst. Du gabst mir eine Antwort - ähnlich röchelnd -, und ich verstand nichts. Ich griff mir an den Kopf: Wachs in den Ohren. Und sie redet und redet. Vielleicht kann ich es irgendwann hören. Es vom Rhythmus der Mundspiralen ablesen, die Nacht einfangen, es den Lidschlägen entreißen... Schweißgebadet wachte ich auf. Ich zerdrückte die Dose, verstaute sie in der Seitentasche des Rucksacks und setzte meinen Aufstieg fort. Jetzt hatte ich es eilig. Ich wußte ja, daß es anstrengend sein würde. Vor mir erstreckte sich nun Ljubljana. Du weißt ja, wenn du das Gefühl hast, du könntest die Stadt mit den Händen anfassen, die Häuser von Rudnik bis Crnuce umwerfen und das alles. Als wäre es mir schon einmal passiert. Die Träume und der Schweiß und die heißen Oberflächen. Als ich am Morgen die Augen öffnete und in die Sonne blinzelte. Ich sah durch das Fenster den üppig blühenden Kirschbaum, und Japan ... Ich glaubte, es anfassen zu können! Aber schon hast du mit einer ungeduldigen Bewegung die Vorhänge weggezogen und das Fenster mit lautem Krach geöffnet. Jemand stand draußen, ich konnte die Jeans und die Stiefel vor dem Fenster deines Kellerzimmers sehen. Du hast ihm den Schlüssel gereicht: „Nein, es ist nicht zu früh, ich warte ja schon, geh ums Haus und sperr dir selber auf." Fiel dir dann in deiner Eile doch noch ein, daß ich in deinem Bett lag? Ja, du hast mir ein T-Shirt hingeworfen. Es war ein Versteckspiel. Das geht mir auf die Nerven: sämtliche Eltern meiner Geliebten, ihre Brüder und Schwestern und alle Verwandten bis zum fünften Grad und die normalen ehemaligen Mitschülerinnen und die Typen, die vielleicht irgendwann ihre Liebhaber sein werden. Deine verrauchten Kerle, die du bewundert hast. Ich würde ja die Szenen mit ihnen nicht kennen. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich an der Sache kennen oder verstehen sollte, warum du mir T-Shirts verpaßtest und dir Scheuklappen, warum meine Füße nur in Socken von der Bettkante baumeln durften. Dein Dealer trat ein, großspurig, und ich zog mir brav dieses verfluchte T-Shirt über - und nein, du konntest es nicht verbergen, schon streiftest du mich mit einem kurzen, trockenen Blick, weil ich es verkehrt herum angezogen hatte und unbeirrt meine Zehennägel anstarrte, als würde ich deine Andeutungen nicht registrieren - und hoffte, das T-Shirt wäre so mit dem Duft meiner Vagina durchtränkt, daß es deinen Dealer umhauen würde und du dich irgendwann, wenn du dich im Spiegel siehst, schämen würdest. Denn nicht nur Lesben tragen die T-Shirts verkehrt herum. Sie zündeten sich einen Joint an, und dann ... fünfhundert Mark, wieviel Gramm, sofort, die Ware, seine Frau mag keine späten Anrufe ... all diese idiotischen Codes. Komischerweise kannte ich die Stimme, sie kam von irgendwoher, von vor ein paar Jahren ... aus Bezigrad oder Siska ... Als ich studierte, war ich mit einer Frau zusammen, die denselben Dealer hatte. Komisch, nicht? Ich drehte mich um zur feuchten Wand, die mich jedesmal, wenn du an meinem Rücken lagst, die Hände auf meiner Brust, an den scharfen Geruch von Waldmoos nach dem Regen erinnerte, und stellte mich schlafend. Es half nichts, ich weiß, mein Körper strahlte aus, unerträglich, wie die heiße Oberfläche eines Hautpilzes. Du hast dich hinter mich aufs Bett gesetzt und dich vorsichtig und zärtlich in meine Kniekehlen gekuschelt. Ich spürte, daß du Buße tun wolltest, weil man es dir zu Hause so beigebracht hatte. Und meine Verachtung für dich spürte ich.
Ich wringe das verschwitzte T-Shirt aus und binde es mir um den feuchten, kühlen Bauch. Ich steige noch höher. Hinter mir liegt Ljubljana, niemand weit und breit. Ich gehe ja keiner vorge¬zeichneten Route nach. Die Richtungsweiser, diese runden, roten Markierungen, das ist nicht meine Sache, das brauche ich nicht. Diese Brüder und Schwestern, diese Begräbnisse und Hochzeiten, das paßt nicht zu mir; das bringt einen um ... Was bin ich jetzt bloß ... Nur manchmal, im Redefluß, im Überschwang der Gefühle ist ein Seufzer dabei, vielleicht eine Atempause, ein nettes Spielchen. Und eine schwarze, borstige Katze zwinkert und streicht an mir vorüber, so daß ich zu zittern beginne. Aber dann weiß ich trotzdem nicht weiter. Ich kann nicht. Ich weiß nicht, wie soll ich es sagen, ich verfalle in die Plattheit. Der Worte. Ich bringe auch keine Umarmung zustande. Und meine morschen Handgelenke ... die Finger wickeln sich um den Oberarm. Alles rutscht. Es geht nicht. Und dann wunderst du dich, warum ich erschrecke. Vergesse. Mich krümme. II. Jetzt bin ich schon sehr hoch oben. Ich glaube, noch nie hier gewesen zu sein, darum ist es egal, ob der Weg kurz war und der Gipfel nicht mehr zu sehen ist, wenn man dort oben steht. Egal, was am Morgen durchs Radio kam. Ich lege mich wieder auf die warmen Felsen, und meine nackten Brüste wehen leise vor Erregung. Wie seltsam, wie schön. Ich habe keine Gedanken für dich. Nur Erinnerungen, aber tief unten und ohne jeden Geschmack. Weißt du eigentlich, wie das gewesen ist? Zu Hause hatten wir kein Radio. Als ich vier Jahre alt war, saßen ich und das kleine Mädchen unseres Nachbarn heimlich in ihrem Auto in der Garage, die angenehm stark nach Benzin roch, und hörten Radio. Ich erinnere mich gern daran, wie sie die Radioskala nach rechts drehte und bei einem Sender hielt, wo eine müde Frauenstimme eine Geschichte erzählte. Wir lehnten uns in die Sitze zurück und hörten mit geschlossenen Augen zu. Noch nie hatte ich eine so traurige Geschichte gehört, schon gar nicht im Radio. Ich fragte sie, ob ich den Beginn der Geschichte hören könnte, wenn ich die Skala nach links - zurück - drehte. Meine Radionachbarin hob ein wenig den Kopf vom Sitz und antwortete schroff, es wäre besser, wenn ich - verrückt wie ich sei - still wäre und weiter zuhörte. Und das habe ich mir gemerkt: Darum sind mir, während ich faul am Vmarna-Berg liege, alle versäumten Anfänge egal. Jetzt kann ich nackt da liegen, die Arme und Hände ausgestreckt und nach außen gedreht. Und etwas Weiches streicht an mir vorüber.
Das habe ich niemandem erzählt. Weil ich einst eine Burgherrin war. Im Land des Bösen. Wie viele Mädchen ich doch erschlagen habe. Ich war eines von ihnen. Glaub mir, mit dir habe ich die Süße anderer Welten entdeckt. Dein Blut in meinen Adern floß anders als meines. Bergauf. Es spannte die Brüste und brandete aus den Adern am Hals. Deshalb konnte ich dich nicht töten. Etwas ließ mir keine Ruhe, ließ mich nicht schlafen. Deine Augen ärgerten mich, das heiße Blut, die verfluchten Pferde gehorchten nicht, als du in meinen Gedanken warst. Als wärst du mein Blut, aus meinem Geschlecht, dem Geschlecht der Untoten, aus meinem Fleisch. All die Unruhe - das habe ich niemandem erzählt.
Als ob alles klar wäre, als wüßte ich alles, ohne zu überlegen, kein letzter verräterischer Gedanke, gab ich mich hin, und - die Tatzen auf meinem nackten Rücken - rollen wir los ... jetzt blinzle ich in die Sonne, jetzt auf die grünen Gräser, jetzt in die braune Erde, auf die kleinen Papierhäuser der Stadt, in die Sonne ...
Es war kurz nach Mittag, und wir saßen auf dem Boden, am Fuß des Vmarna-Berges, an der Bushaltestelle, ungebändigt. Als ich die Zigaretten aus dem Rucksack nehmen wollte, berührte ich die angenehm kühlen Brote. Ich ordnete sie auf dem Buch über irgendwelche Gesetze zu einem horoskopischen Trigon nebeneinander und gab der Löwin lachend einen kräftigen Stoß in die Rippen. Wir aßen alles auf, und ich durfte sie an den langen Barthaaren zupfen. Ich wischte ihr das Maul ab und versprach, sie bald in die höllischen Abgründe der Wildnis zu führen. Ihr zu erlauben, mich auf der Spitze eines Steinüberhangs zweimal mit dem Schwanz zu umwickeln, mir ins Ohr zu brummen und mich zu drücken, wenn wir uns in die grünblaue Dämmerung der Schlucht hinuntergleiten lassen würden. Versprach ihr, etwas Löwenartiges unter meinem Herzen zu tragen. Mit freundliche Genehmigung der Autorin
Aus Suzana Tratnik
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