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Walther Schütz

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2008-08-15

Eine leere Hülle nennt Ulrich Brand die Politik

In seinem jüngsten Kommentar im STANDARD liefert der Politikwissenschafter Ulrich Brand eine meines Erachtens ausgezeichnete Beschreibung des Zustandes von Politik. Diese sei hier dokumentiert, das Original ist auf DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2008 erschienen. In vielem erinnert sein Beitrag an die Motive der paradoxen Intervention der r Partei ICH WÄHLE NICHT. Ulrich Brand geht mit seiner Analyse sehr weit, doch geht er weit genug mit seinen Fragen nach dem ,WARUM'?

Fragen bzw. Anmerkungen von meiner Seite sind im Text eingefügt.

Die Politik als leere Hülle

Ein politisch recht langweiliger oder heißer Sommer – je nachdem, wie man Wahlkampf und Parteitage einschätzt. In jedem Fall ist es die Zeit der permanenten Inszenierungen und Versprechen. Ein Kommentar der Anderen. Von Ulrich Brand.

Politiker und Medien wie auch konservative Sozialwissenschaftler sprechen immer wieder von Politikverdrossenheit, manche etwas pointierter von Politikerverdrossenheit. Doch es ist viel dramatischer: Die Parteien selbst verabschieden sich aktiv von demokratischer Politik. Sie transformieren sich mehr und mehr in reine Wahlmaschinen. Es geht kaum mehr um gesellschaftspolitischen Diskurs und die Vermittlung komplexer Interessenlagen. Wahlen sind dazu da, Machteliten zu legitimieren.

  • Anmerkung Walther Schütz: Warum ist das so? Ist nicht einer der Faktoren dafür, dass die Form der Politik weitestgehend parallel ist zu marktwirtschaftlichen Prozessen, nur dass halt statt des Geldes Stimmenanhäufung zur Erlangung der Mandate und Ausstechung der Konkurrenz betrieben werden muss?
  • Die ganze parteipolitische Aufgeregtheit geht mit einer dramatischen Entpolitisierung einher und wird von ihr vorangetrieben. Auch der Anti-EU-Populismus ist Teil der Entpolitisierungsstrategie. Über die vielfältigen gesellschaftlichen Probleme wird kaum noch diskutiert.

    Politik bedeutet eigentlich, sich über Probleme und die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zu verständigen, zu streiten, Kompromisse zu schließen. Doch die zunehmende soziale Spaltung, die Probleme des immer dramatischeren Standortwettbewerbs, die unkontrollierte Macht der Unternehmen, die Schwächung der Gewerkschaften, die vielen Dimensionen der ökologischen Krise, zunehmende Gewalt und Repression spielen keine Rolle, auch nicht die tiefe Krise des Parteiensystems und die Krise staatlicher Politik.

  • Anmerkung Walther Schütz: Natürlich kann man quasi vom grünen Tisch aus Politik definieren als die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse etc. Aber wird so eine idealistisch gesetze Begriffsdefinition den realen Verhältnissen gerecht? Setzt das nicht einen Staat voraus, der irgendwie nicht Teil und Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, sondern über diesen drüber schwebt? Aber ist das so? Ist Staat nicht quasi automatisch nur die Kehrseite des Marktes und sind beide – Markt und Staat – Ausdruck unserer kapitalistischen Vergesellschaftung? Siehe Der Staat – das unbekannte Wesen
  • Dahinter steht ein Problem, das vom Establishment schlichtweg negiert wird: Wir erleben eine Krise der Repräsentation. Immer mehr Menschen fühlen sich in der real existierenden Demokratie nicht mehr repräsentiert.

    Und wie wird die Repräsentationskrise bearbeitet? Durch einen breiten Konsens der Parteien, dass es keine Alternative zu den herrschenden Entwicklungen zu geben scheint. Diese vermeintliche Alternativlosigkeit zur neoliberal-repressiven Politik am „Wirtschaftsstandort Österreich" scheint ein Faktor zu sein, auf den sich etablierte Parteien verlassen können.

    Die hauptsächlichen Linien der Politik werden auch deshalb nicht infrage gestellt, da sozial- und wirtschaftspolitische Alternativen jenseits des inszenierten Parteiengezänks systematisch aus den öffentlichen Debatten ausgeblendet bleiben. Die gesellschaftlichen Eliten haben, zusammen mit den Medien, ihre Interessen an Umverteilung von unten nach oben und Ungleichheit abgesichert. Immer noch herrscht, allem Gerede zum Trotz, das „neoliberale Einheitsdenken" (Pierre Bourdieu). Das ist der Kern der Entpolitisierung, mit der die ökonomischen und politischen Eliten gut leben. Der Gestaltungsanspruch sozialer und demokratischer Politik geht verloren.

    Die Krise der Repräsentation wird von rechtsextremen Kräften aufgenommen, ohne Perspektive einer wirklichen Bearbeitung. Das macht auch die propagandistische Stärke von FPÖ und BZÖ aus. Sie brüllen ihre rassistisch codierte, fundamental-opportunistische Alternativlosigkeit laut heraus.

    Es reicht schon lange

    Der Molterer-Spruch „Es reicht" müsste von der großkoalitionären Angewidertheit befreit werden. Vielen Menschen reichen die Entwicklungen – nicht nur das parteipolitische Gezänk. Das scheint die SPÖ nicht zu verstehen, oder sie traut sich nicht, es zu begreifen.

    Das betrifft aber auch das weitgehende Abtauchen der Grünen. Zwar erleben wir zunehmende sozial-ökologische Krisen, dringenden Handlungsbedarf, eine kaum für möglich gehaltene breite und informierte Diskussion über Klimawandel, Energiepreise und Nahrungsmittelkrise. Doch jene Gruppierung, die wie keine andere hier für sich Kompetenz und alternative Konzepte beanspruchen kann, ist kaum präsent. Dass sie auf Schwarz-Grün setzt und sich deshalb nicht aus der Deckung wagt, ist kein Geheimnis. Dass die Grünen aber auch von einer derart starken Entpolitisierung profitieren wollen, ist besonders fahrlässig.

  • Anmerkung Walther Schütz: Was hier über den - bei allen oberflächlichen Unterschieden - vorhandenen neoliberalen Grundkonsens geschrieben wird, ist vollkommen richtig. Aber WARUM hat sich dieser Grundkonsens so durchsetzen können? Sind wir nicht vielleicht alle (bzw. zumindest die meisten) der Illusion aufgesessen von der freien Gestaltbarkeit der Verhältnisse durch Demokratie im Kapitalismus, nur weil in einer bestimmten Nachkriegsphase die Spielräume für ein paar humane Zugeständnisse tatsächlich etwas größer waren? Sind wir nicht vielleicht in einer Phase kapitalistischer Entwicklung angelangt, in der die Systembedingungen ,Bedienung der Profitrate', ,Expansion', ,Schaffung von Bedürfnissen', ... (und das alles auf einer begrenzten Erde) einfach nicht mehr zusammen gehen können? Siehe Wachstum, Profit und andere Götter
  • Alternative Politik muss mehr sein als Parteipolitik. Das ist kein Grund zu falscher Romantik („früher war alles besser"). Progressive Kräfte setzen zumindest an einer sozialen, demokratischen und ökologischen Regulierung des kapitalistischen Marktes und den Interessen von Unternehmern und Vermögensbesitzern an. Die sind der ÖVP ohnehin näher.

    Doch – und das ist wohl die zentrale historische Erfahrung sozialdemokratischer Politik – progressive gesellschaftliche Gestaltung geschieht nicht durch Eliten, sondern in gesellschaftlichen Kämpfen. Und die sind in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung komplizierter als früher.

    Kollateralschaden

    Solange es breite rassistische Konsense gibt, solange die umweltzerstörerischen und unsolidarischen Produktions- und Konsumweisen nicht infrage gestellt werden, solange soziale Ausgrenzung akzeptiert wird, so lange bleiben die Spielräume für progressive Veränderungen gering.

    Es geht um gesellschaftliche Auseinandersetzungen darüber, wie sich diese Gesellschaft verändern soll bzw. verändert. Wenn diese dazu führen, dass die Menschen sich mehrheitlich wieder als Teil dieser Gesellschaft fühlen und nicht als Kollateralschaden im „globalen Standortkrieg" , wenn sie würdige Arbeits- und Lebensbedingungen und materielle Rechte haben, wenn Solidarität ebendieses wieder bedeutet und nicht, von den Eliten über den Tisch gezogen zu werden, dann kann sich auch wieder ein Verständnis von „Politik" im Sinne gesellschaftlicher Gestaltung herstellen.

    Notwendig wären breite gesellschaftliche Debatten und soziale Bewegungen, umfassende Bildungsprozesse, der Aufbau gewerkschaftlicher und anderer Gegenmacht, um die immer schamloseren Gewinner der aktuellen Entwicklungen zu Kompromissen zu zwingen und Alternativen zu entwickeln. Das ist und bleibt der Kern sozialer, demokratischer und ökologischer Politik.

  • Anmerkung Walther Schütz: Natürlich hat Ulrich Brand recht, wenn er betont, dass humane Alternativen sich nicht von selbst einstellen werden, ja dass sie von Gegenmacht erkämpft werden müssen. Trotzdem beschleicht mich bei diesen aus der Terminologie des Sozial- und Klassenkampfes stammenden Begriffen zunehmend ein ungutes Gefühl. Vielleicht, weil sich damit immer die Vorstellung von etwas ganz Anderem, von einem Feind verbindet, während wir doch einmal erfassen sollten, wie sehr wir etwa darauf angewiesen sind, dass der Arbeitgeber Arbeit nimmt und der Arbeitnehmer Arbeit gibt? Wie sehr wir IN DIESEM SYSTEM darauf angewiesen sind, dass die Wirtschaft wächst, während wir gleichzeitig zumindest ahnen, dass wir damit den Ast, auf dem wir sitzen, absägen? Zumindest so lange, bis wir nicht nur die uns konstituierenden Säulen (Erwerbs-)Arbeit, Konkurrenz, Bedürfnisse, ... grundlegend hinterfragt haben und auch eine andere Praxis des Zusammenlebens begonnen haben. Aber da beginnt natürlich das Henne-Ei-Problem ...
  • Quelle: DER STANDARD, Printausgabe, 9.8.2008

    Ulrich Brand ist Univ.Prof. für Politikwissenschaften an der Universität Wien, wissenschaftlicher Beirat von Attac-Deutschland

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