2004-04-30
Antonio und das Mädchen - Teil II
Antonio ließ alle Vorsicht gegenüber den Kindern fallen und rannte geradewegs auf das Mädchen zu, fasste es am Arm hob es an seine Brust und breitete schützend seinen Arm über sie. Sofort verstummte das Geschrei und die Verfolger flüchteten hinter die nahegelegenen Büsche. Antonio, immer noch die Hand schützend über den Kopf des Mädchens gelegt, ging mit ihr zu seiner kleinen Behausung, wo er das Mädchen sanft auf die Holzbank unter dem Küchenfenster setze. Das Mädchen hielt den Kopf gebeugt, duldete zwar Antonios Hand auf ihrem Scheitel, wagte aber nicht den Blick zu heben. Antonio ließ sie gewähren. Es dauerte nicht lange und er begann dem Kind eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte handelte von stolzen Völkern in der Wüstem, von dem ungebrochenen Stolz der Nomaden und von Einsamkeit, die durch ein goldenes Zauberherz in Freude verwandelt wurde. Lange währte die Erzählung. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt, Antonios Hand ruhte nach wie vor auf ihren Haaren.
Erst als der Erzähler zu jener Stelle kam, wo das Zauberherz tatsächlich Trauer in Freude verwandelte, blickte sie Antonio in die Augen. Der wiederum musste seinen Schreck beherrschen, denn dieses kleine Menschlein hatte ein Gesicht, welches von Brandnarben entsetzlich entstellt war. Dicke Narbenstränge zogen sich über die Wange bis sie in der dünnen Bluse verschwanden. Nur die Augen waren unversehrt, der Rest, des einst lieblichen Gesichtes war eine einzige unauslöschliche Verletzung. Die Trauer der Augen brannte sich in Antonios Herz, doch statt einer Träne des Mitleides zu spüren, war es ihm nach Zuwendung. Still sah er das Kind an, während sich die Augen des kleinen Mädchens hoffend weiteten. Immer wieder blickte er in das narbenzerstörte Gesicht, bis es ihm war, als lächle das Kind. Es war schwer dieses Lächeln zu finden, denn die Haut ließ kaum Bewegungen zu, ob der dicken Narben. Er aber spürte das Lächeln, ließ es in sein Herz eindringen, wo es sich auf immer festsetzte.
Antonio erzählte eine neue Geschichte, immer dreister und witziger wurden seine Erzählungen. Er wurde fröhlich und lachte dabei war es ihm nach Tanz und Freude. Wie von außen beobachtete er die Szene, deren Absurdität wohl durch Nichts zu überbieten war. Er konnte nicht anders als seinem Lachen jenen Raum wiederzugeben, der in seinem Herzen dafür bereitet war. Plötzlich war es ihm, als hörte er ein weiteres Lachen, hell klingend von freudiger Schönheit. Durch sich selbst derart abgelenkt, fiel ihm erst jetzt auf, dass eben dieses Lachen von dem kleinen Mädchen stammte, die mit Tränen in den Augen über Antonio zu Lachen wusste.
Immer feuriger wurde Antonios Tanz, immer rascher die Bewegungen. Gleichzeitig erzählte er weitere Geschichten, so es das Lachen zuließ. Lachen, sprechen, tanzen! Das Mädchen lachte aus vollem Herzen mit all seiner kindlichen Fröhlichkeit die seit langem unter jenem Wundpanzer verborgen geblieben war. Erst nach langer Zeit fasste sich Antonio, setzte sich neben das Mädchen, welches immer noch lachte, nahm ihren kleinen Körper in die Arme, bis das Lachen verebbte und der kleine Körper in seinen Armen einschlief. Völlig unbeweglich, bemüht den heilsamen Schlaf nicht zu stören saß Antonio auf der Bank. Seine Augen hatten längst die Kinder hinter den Sträuchern wahrgenommen, dennoch ließ er es sich nicht anmerken. Erst gegen Mittag trollten sich die völlig fassungslosen Kinder heim. Das Mädchen aber, blieb bis zum Abend bei Antonio.
Sie hieße Sabeth, und dass ihr einst kochendes Wasser das Gesicht stahl und Kinder sie ob ihres Aussehens verhöhnten! Stück für Stück durfte Antonio ihre Geschichte hören und statt Trauer löste sie abermals ein fröhliches Lachen aus, dessen Echo aus dem Munde des Mädchens kam.
Erst an der Schwelle der Dunkelheit verabschiedete sich das Kind, nicht ohne nach der Möglichkeit eines Besuches am kommenden Tag zu fragen. Ach, wie sie Antonio willkommen hieß. Am Weg ins Bett ging Antonio das Bild dieses Kindes nicht aus dem Kopf. Auch fragte er sich warum er, statt des gebührenden Mitleides gelacht hatte. Er war sich keiner Schuld bewusst und letztlich war es ihm gelungen dem Mädchen das eigene Lachen wieder zu schenken.
„Erzähl mir eine Geschichte“ hörte er hinter sich als er gerade im Begriffe war den Rosenstrauch nahe seiner Hütte hochzubinden. „Erzähl mir eine Geschichte“ klang es nochmals in kindlich herrschenden Ton. Antonio blickte dem kleinen Mädchen lange in die Augen, nahm es bei der Hand und sie gingen zur Bank unter dem Küchenfenster. Antonio erzählte und erzählte, das Mädchen legte sanft seinen Kopf an ihn und erlebte jede der Geschichten mit solcher Intensität und Hingabe, dass sich Antonio schier verzaubert vorkam. Es folgte Geschichte auf Geschichte. Immer heiterer wurden sie, immer fröhlicher, das Mädchen gluckste vor lauter Freude, lachte und lachte, bis es erschöpft einschlief.
Tag für Tag wiederholten sich die Besuche, bis zu jenem denkwürdigen Tag, als das Mädchen nicht alleine zu Antonio kam. Hinter ihr eine Schar Kinder, wobei Antonio einige erkannte, denn sie waren einst hinter dem Mädchen nachgerannt mit wüsteten Beschimpfungen. „Bitte erzähl uns eine Geschichte“ sagte das Mädchen. Als Antonio auf seiner Bank Platz nahm, kuschelte sich das Mädchen an ihn. Ebenso wie sie es immer tat, seit dem Tag der ersten Geschichte. Die anderen Kinder setzten sich vor Antonio auf den Boden und dieser begann zu erzählen. Immer tollere Geschichten entsprangen seiner Phantasie. Die Kinder lauschten angespannt, erheitert und fröhlich. Nur das Lachen konnte noch keinen Platz finden in dieser Runde. Einzig das Mädchen ließ ein Lächeln erkennen, bis zu dem Zeitpunkt als sie Antonio jäh mit den Worten „wir gehen jetzt“ unterbrach. Unwillig folgten ihr die anderen Kinder, es war ihnen wohl nach weiteren Geschichten. Das Mädchen schritt entschlossen davon, die restlichen Kinder hinter ihr her. „eine Geschichte noch“ bettelte einer der Buben. „Morgen“ kam es aus dem Munde des Mädchens zurück „morgen“!