2004-02-16
Amo Trieste - II
Der Wunsch in die Befestigungsanlage einzutreten wurde übermächtig. Ganz bedäch¬tig suchte er das Tor zu durchqueren. Langsam, Schritt für Schritt suchte er seinen Körper durch die große Öffnung zu bewegen. Erst als er seine Augen schloß und ra¬schen Schrittes diese, seine Blockade überwand, betrat er den Hof. Stimmen waren um ihn, Kinder lachten, Frauen plauderten und Männer hatten ihre Kofferradios einge¬schaltet, um dem sonntäglichen Fußballspiel zuzuhören. Er wollte sie sehen, all die Menschen, die Töne und auch die Worte jener Sprache, in deren Geheimnisse er immer tiefer eindringen wollte. Zielsicher setzte er seinen Weg fort, obgleich es ihm unmöglich geworden war die Augen zu öffnen. Erst ein brennender Schmerz am Augapfel, hervorgerufen durch seinen Finger, tat ihm kund die Augen geöffnet zu haben ohne zu sehen. Erstaunt fühlte er keine Angst in sich hochsteigen. Nein, er war sich seiner Sache so sicher, daß er sogar die Stufen zu hohen Mauer erklomm. Als er seinen Blick, scheinbar über die Stadt schweifen ließ, verstummte das Stimmengewirr um ihn herum. Nur eine einzige Frauenstimme blieb ihm hörbar. Allein er konnte die Worte nicht verstehen, dennoch konzentrierte er sich mit aller Kraft auf diese Stimme und damit auf die Frau der diese Stimme wohl gehören würde. Abermals fügte er sich mit dem Zeigefinger den brennenden Schmerz auf dem Augapfel zu, um schließlich mit sanftem Druck der Finger die Augenlider zu schließen. Die erwartete Dunkelheit blieb aus, die Frauenstimme bekam langsam einen Körper. Doch das Bild war noch zu diffus um irgend etwas zu erkennen. Das Alter schätzte er so auf Mitte Vierzig, die Stimme war jung und wenn sie lachte, und sie lachte häufig, war ihm als hörte er in dem Lachen eine Spur von Trauer. Keine Trauer des Abschiedes, auch keine Trauer deren Macht letztlich in Tränen mündet. Es war eher die Trauer des Begreifens. Eines Begreifens von Dingen und Zusammenhängen die wohl schwer anderen Menschen mitteilbar waren. Ihm wurde bewußt diese Trauer zu kennen. Als Eindruck aus Momenten da er Dinge begriff, die ihm so wichtig und auch schmerzend waren. "Es war" so kam es ihm letztlich in den Sinn "die Trauer der Veränderung, des Loslassens nach einem Moment der Erkenntnis". Die Stimme um ihn lachte abermals, ein leises, fast schüchternes Lachen, in dem unendliche Geborgenheit schwang. Einem Licht gleich, umfing ihn dieses Lächeln und er suchte die Frau näher zu erkennen. Immer tiefer sank er in eine Konzentration, deren Folge das Öffnen des dritten Auges ist. Ein Auge welches in der Lage ist zu leiten und Dinge sehend zu machen, die uns umgeben ohne sich aufzudrängen. Nicht wie die lauten Leuchtreklamen in den Einkaufstrassen, den flimmernden Bildern auf den Fernsehschirmen in Bars der Stadt.
Sein Blick drang tiefer und tiefer in die Stadt. Bald sah er sich da und dort bei Tisch, die Hausfrau servierte soeben die köstlichen kleinen Fische und die beherrschende Geste der Hausherrenhand bedeutete ihm zuzugreifen. "Es wäre genug für alle" schien diese Geste zu bedeuten. So oft er auch zulangte, es war ihm unmöglich von diesen Fischen zu nehmen, denn gerade in diesem Moment fand er sich in einer anderen Wohnung wieder, wo ihm eine weitere Hausherrengeste bedeutete, doch von den Fischen zu nehmen, denn "es wäre für alle genug zu essen". Schweren Herzens verließ er diese Häuser und fand sich in einer der unzähligen Kirchen wieder, wo sich Menschen zu Gebet versammelten. Alte Menschen, aber auch Junge deren Andacht hoch emporstieg in eine Welt deren Ursprung ihm zwar verschlossen, deren Kraft ihm jedoch geläufig war. Die Lieder klangen empor und als ein Glockengeläute einsetzte hörte er wieder das silberfeine Lächeln jener Frau die ihn begleiten schien. Ihr Bild gestaltete sich immer deutlicher. Das Gesicht zeugte von Ängsten und Befürchtungen, zugleich lag etwas unglaublich schönes in den Zügen dieses Menschen. Ein Bild der Kraft und Erkenntnis umgab das Antlitz. Es wurde frei mit jedem weiteren Blick den er in das Gesicht legen durfte. Zwischen den Bars, Kirchen, Gaststätten, Krankenhäusern, Siechenhäusern, Wohnungen, Schulen, Irrenanstalten, die er Kraft seines dritten Auges betreten durfte, fiel sein Blick immer öfter auf das schöne Gesicht, welches mit jeder Begegnung ausgeglichener und glücklicher zu werden schien. Er begann nun sogar ihren Körper zu spüren. Ganz sanft, als beuge ein Windhauch den zarten Körper an den seinen.
"Signore" weckte es ihn aus seinem Glücksgefühl "Signore il Castello e` chiuso. Vogliamo chiudere il Castello". Der Aufseher des Bauwerkes waltete seiner Pflicht die ihn nun dazu verdammte den einsamen Spaziergänger aus seinen Träumen zu wecken, um ihm klarzumachen, daß nun die Anlage geschlossen würde. "Momento" stammelte er verwirrt "Momento voglio guardare". Verständnislos starrte ihn der Aufseher an. "Sto imparando" erklärte er dem verdutzten Italiener dessen Gesicht nun von einem breiten Lachen überzogen wurde. "Sie wollen unsere Sprache lernen?" "Si, si" erwiderte er rasch. Das breite Lachen war im Gesicht des Aufsehers steckengeblieben "Wir schließen jetzt" machte er dem Träumer seine Absichten klar. "Si, si" erwiderte der Spaziergänger. "Un momento per favore" suchte er noch ein wenig Zeit zu gewinnen um nun, mit offenen Augen auf eine Stadt zu blicken deren Straßen bereits von der Nacht umflutet wurden. Geduldig ließ ihm der Aufseher noch ein klein wenig Zeit. Rasch wagte der Spaziergänger noch einen Blick auf den Karst, auf die zahllosen Dächer und senkte ihn, bis er schließlich des Hafens gewahr wurde. Die wunderschö¬nen Lampen mit der Lilie als Spitze verbreiteten ein warmes Licht welches über die Mole gleichmäßig ins Meer floß. Er sah das Licht fließen. Er erkannte den Strom einer für uns unermeßlichen Zeit in die Ewigkeit des Meeres fließen. Spaziergänger genossen den warmen Sommerabend. Die Lichter der Autos blieben still, der Lärm in den Gassen. Sein suchender Blick wurde wie von Zauberhand geleitet, bis hin zu dem Stein in der Mole, dessen Form nur auf vier Seiten von dauerndem Bestand ist. In sich versunken starrte er gebannt auf den Stein, dessen Oberfläche ein wenig mehr zu glänzen schien als die der umgebenden Steine. "Signore" tönte es jetzt ein wenig unge¬duldiger in den Traum. Mit einem entschuldigenden Lächeln drehte er sich am Aufseher vorbei in Richtung der Stiegen, um die Festungsanlage zu verlassen. Hinter sich hörte er noch Schritte die sich erst beim Tor in das Knirschen von Schlüsseln wandelten.